… mit Schmerzen, Schmerzerleben und Schmerzverarbeitung befasse ich mich nun schon seit einigen Jahren. Sie finden auf dieser Web-Site einige künstlerische Grafiken zu diesem Thema.
Nun möchte ich meinen ersten Text zum Thema Schmerz gerne zugänglich machen. Zuerst erschien er in der Zeitschrift für Heilpädagogik 4/2012. Eine etwas gekürzte, aber auch pflegerisch angepasste Version erschien jetzt in Schmerz und Schmerzmanagement, 1/18. (Themenschwerpunkt: Schmerzen und Behinderung)
Hogrefe Verlag, Bern.
Lesen Sie hier die erste, ursprüngliche Textversion.
Andreas Fröhlich
(Heil-) Pädagogik und Schmerz
Wenn man ernsthafte Schmerzen hat, sollte man zum Arzt gehen. Schmerzen sind eindeutig etwas, was dem medizinischen Feld zuzuordnen ist. Der Schmerz als Warnzeichen, der Schmerz als Indikator für eine körperliche Störung.
Schmerz kann umgangssprachlich allerdings auch mit Leid verwechselt werden. Der seelische Schmerz – das Leid – tut oft noch sehr viel mehr weh als ein körperlicher. Dies gilt für Erwachsene, für junge Menschen und genau so auch für Kinder
Schmerz und Leid gehören leider zum menschlichen Leben dazu, völlige Schmerz- und Leidfreiheit wird wohl kaum zu erreichen sein. Dennoch herrscht Einigkeit dahingehend, dass Schmerz und Leid keine wünschenswerten Zustände sind, dass sie vermieden werden, dass sie ggf. auch therapeutisch angegangen werden sollten.
Was könnte nun Pädagogik mit Schmerz zu tun haben? Wir wissen, dass die Vermeidung von Schmerz ein menschliches Grundbedürfnis ist, dass Kinder, die unter starken Schmerzen leiden, in ihrer Erkundungs- und Spielfreudigkeit eingeschränkt sind, dass Lernen nur schwer möglich ist, wenn große Schmerzen ein Kind gewissermaßen ausfüllen und vollständig in Anspruch nehmen.
Das kann man mit „pädagogischen Augen sehen“, aber kann Pädagogik etwas gegen Schmerzen tun?
Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen als PDF hochladen
Für ein „Alltagswehwehchen“ mag sich die Pädagogin, der Erzieher und auch die Lehrerin noch zuständig fühlen. Ein kleines Pflaster, ein bisschen Pusten, ggf. drei Tage Rehgen, drei Tage Schnee…tut gar nicht mehr weh – mehr wird aber kaum möglich sein.
Kümmert sich Pädagogik ausreichend um Schmerzen? Macht sie sich Gedanken, sucht sie nach Lösungen? Oder gibt es da nicht eine gewisse Schmerzabstinenz der Pädagogik? Ist sie sinnvoll, nützlich, kann sie verantwortet werden?
Ein Durchblättern von sonderpädagogischen Standardwerken macht deutlich, dass es tatsächlich so etwas wie eine Schmerzabstinenz gibt. Leonard und Wember: Grundfragen der Sonderpädagogik, Rost: Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, Borchert: Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie, Theunissen: Handlexikon Geistige Behinderung, Irblich/Stahl: Menschen mit geistiger Behinderung, Bundschuh/Heimlich: Wörterbuch Heilpädagogik, Grewing: Kompendium der Heilpädagogik, aber auch Keller: Handbuch der Kleinkindforschung, nirgendwo taucht Schmerz als Stichwort auf.
Walter Thimm wendet sich immerhin Leid und Leiden im Handlexikon der Behindertenpädagogik von Anthor/Bleidick zu.
Der Arzt Hülshoff schenkt in seinem Buch: „Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik“ dem Schmerz sehr wohl Aufmerksamkeit – und nicht nur medizinisch.
Zweifellos ist diese Auflistung kein wissenschaftlicher Nachweis einer grundsätzlichen Schmerzabstinenz der Pädagogik, gibt jedoch deutliche Hinweise darauf, dass hier ein möglicherweise wichtiger Lebensbereich ausgeklammert wird. Zumindest im pädagogischen Blickfeld sind Schmerzen als zentraler Begriff für eine existentielle Befindlichkeit nicht zu finden.
Ein Beispiel
Mein Enkel, 6 Jahre alt, schreit plötzlich mitten im ruhigen Spiel laut auf, wälzt sich auf dem Boden, gibt auf Nachfrage keine Antwort, man konnte auch nicht erkennen, dass irgendetwas passiert gewesen wäre. Er schreit, wälzt sich. Eine Schaueinlage? So etwas kommt ja auch vor.
Mir scheint, er schreit tatsächlich auch demonstrativ. Es könnte ein sehr überraschender, ein sehr heftiger Schmerz sein, der in seiner bisherigen Erfahrung noch nicht vorgekommen ist? Ich lege meine Hand deutlich spürbar auf seinen Rücken, warte einen Moment, beginne dann zu fragen: „Tut es im Kopf weh?“. Er schüttelt den Kopf. „Tut es am Bauch weh?“ Er schüttelt den Kopf. „Tut es am Rücken weh?“ Er schüttelt den Kopf.
Ich merke, er beginnt ein wenig ruhiger und nicht so verkrampft zu atmen. Ich lasse meine Hand weiter an seinem Rücken, bleibe so mit ihm in Kontakt. Ich frage ihn weiter: „Ist etwas mit den Händen?“ Jetzt kann er immerhin schon „Nein“ sagen, er unterbricht sein Schreien für diese Information. Ich lasse meine Hand langsam den Rücken hinunter wandern, komme zum Bein, verstärke den Druck ein wenig und frage: „Tut das Bein weh?“ „Nein, ja, nein, ja.“
Hier muss also etwas sein. Wir finden das Knie und das Knie ist es, das unglaublich weh tut.
Äußerlich nicht verletzt, keine Schwellung, auch im Vorfeld keine übergroße Anstrengung. Ich erinnere mich, in der Familie gibt es immer wieder Meniskusprobleme, ein kleines Stückchen klemmt sich ein für einen kurzen Moment und erzeugt einen unglaublichen Schmerz. Den Schmerz, den man in einem Kinderleben mit aufgeschlagenen Knien, eingeklemmten Fingern und Kinderrempeleien so nicht kennt.
Meine Hand wandert zu seinem Knie, bleibt dort liegen, ganz ruhig. Ich verändere die Lage des Knies nicht, ich lasse das Bein so wie er es in einer Schonhaltung hingelegt hat.
„Ich glaube, ich weiß, was in deinem Knie weh tut“. Er hat schon aufgehört zu schreien, er schaut mit großen erschreckten Augen, wird aber ruhiger, seine Atmung normalisiert sich. Der Schrecken ist kleiner geworden. Nach einer Weile getrauen wir uns gemeinsam das Bein ein bisschen zu bewegen, das Knie vorsichtig, vorsichtig ein bisschen zu strecken, er merkt, dass nichts „kaputt“ ist.
Wir könnten sagen, dass das Verhalten des Großvaters in gewisser Weise pädagogisch war. Medizinisch war es ganz sicherlich nicht, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Aber was könnte daran pädagogisch gewesen sein?
Wir haben gemeinsam einen Lernprozess durchlaufen. Ein plötzliches Ereignis am eigenen Körper – erschreckend und schmerzhaft – konnte durch geführte Wahrnehmung lokalisiert werden. Damit wurden die anderen Partien des Körpers gewissermaßen befreit und behielten ihre ursprüngliche Körperidentität. Diese Differenzierung und Lokalisierung half die begleitenden psychischen Phänomene wie Angst und Schrecken zu verkleinern, aus dem existentiellen Schmerz wurde ein schmerzendes Knie. Es gelang dem Jungen, sich wieder sprachlich auszudrücken und dann selbstbestimmt auch das eigene Bein wieder zu steuern.
In dieser gemeinsamen Sequenz gewann der Junge seine Selbstregulationsfähigkeit wieder zurück und lernte dabei gleichzeitig, wie man so etwas machen kann. Im Nebeneffekt gab es Information zur Funktion des Knies und die großväterliche Versicherung, dass dies etwas ist, was man kennt, was nicht schlimm ist und was vielleicht einmal wieder kommen kann, aber dann ja beherrschbar ist.
Pädagogik und Schmerzbegleitung
Schmerz, so zeigt dieses Beispiel und vielfältige Erfahrung all derer, die mit Kindern praktisch arbeiten, hat eine pädagogische Komponente, wenn Schmerz nicht nur medizinisch sondern auch pädagogisch beantwortet wird. Und jeder Kinderarzt kann davon berichten, wie wichtig für seine täglich Arbeit die pädagogische Komponente der Schmerzbegleitung ist.
So soll bereits an dieser Stelle der Begriff palliative Pädagogik eingeführt werden. Pädagogik hat neben unendlichen vielen anderen Aufgaben auch die einer Schmerzbegleitung.
Im Folgenden soll nur dargelegt werden, welche Überlegungen außerhalb des großväterlich-palliativen Tuns erforderlich sind, um Kinder in möglichen Schmerzsituationen oder Schmerzphasen gut zu begleiten.
Besonderheiten
Bei Kindern mit sehr schweren und komplexen Beeinträchtigungen ist die auch medizinische Schmerzbehandlung und die pädagogische Schmerzbegleitung erheblich beeinträchtigt.
An erster Stelle dieser Beeinträchtigung steht zweifellos die Kommunikation. Sehr schwer behinderte Kinder haben kaum die Möglichkeit sprachlich auszudrücken, was ihnen weh tut, wo ihnen etwas weh tut, wie sehr es weh tut. Darüber hinaus werden sie sich schwer tun, Fragen auch indirekt über Gesten oder andere Zeichen zu beantworten, der Prozess des Suchens nach dem Schmerz gestaltet sich deutlich schwieriger als bei einem nicht beeinträchtigten Kind.
Eine De-Sensibilisierung der besonderen Art muss bei sehr schwerbehinderten Kindern vermutet werden. Sie sind es leider häufig „gewohnt“ mit Schmerzen zu leben. Ihre Spastik, die Kontrakturen, die einseitige Lagerung, Fixierungen, Luxationen, Refluxstörungen, all dies sind chronische Schmerzquellen, die häufig auch von dem sozialen Umfeld mehr oder weniger hilflos hingenommen werden.
Die familiäre Schmerzkultur spielt eine weitere wichtige Rolle. Sind Schmerzen in einer bestimmten Familie etwas sehr aufregendes, ängstigendes, wird um sie herum sehr viel Sorge deutlich oder leben in dieser Familie ausschließlich Indianer, die keinen Schmerz kennen?
Angesichts sehr vieler Familien in unseren Einrichtungen, die aus einem anderen Kulturraum stammen, kann sich diese Frage noch weiter differenzieren.
Die Unsicherheiten der Medikation bei sehr schwer behinderten Kindern macht den Umgang mit akuten und chronischen Schmerzen auch aus medizinischer oder paramedizinischer Sicht recht komplex. Es kommt zu unerwünschten Nebenwirkungen, es kommt zu ausbleibenden oder übersteigerten Wirkungen. Viele Kinder haben schon einen sehr hohen Medikamentenbedarf, so dass man nur ungern noch weitere Medikamente gibt. Die Medikamentengabe selbst kann schwierig sein, bei allen Formen von Schluckstörungen ist eine schnelle orale Gabe oft nur mit Mühe möglich. Darüber hinaus liegen wenig gesicherte Erkenntnisse vor, wie Kinder z. B. mit schweren Hirnschädigungen oder mit bestimmten genetischen Veränderungen Schmerzmedikamente verarbeiten. Nicht zuletzt sind es die heimlichen Bewertungen des Schmerzes durch die soziale Umwelt und Einzelne, die auf Schmerz reagieren sollen. Ein ständig jammerndes Kind wird ganz sicherlich eine andere Schmerzbegleitung erfahren als eines, das sonst fröhlich und heiter ist und nun plötzlich weint und ganz elend erscheint. Wir haben es also schon bei relativ oberflächlicher Betrachtung mit einer Fülle von Variablen zu tun, die bei einer pädagogischen Schmerzbegleitung eine Rolle spielen.
Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen
Auch für Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen gibt es den akuten Schmerz, den ein Kind sich z. B. bei einer Verletzung zuzieht. Es könnte aber auch ein akutes Bauchweh sein oder Kopfschmerzen, eben das, was man einen „normalen“ Schmerz nennen könnte.
Sie haben aber auch spezifische Schmerzen, dazu gehören die oben bereits angeführten Schmerzen bei stark erhöhtem Muskeltonus (Spastik), bei Luxationen und Kontrakturen der Gelenke, Schmerzen durch Refluxstörungen. Bei Pflegehandlungen, bei einem Transfer vom Bett in die Sitzschale, bei der Nahrungsaufnahme – immer wieder tauchen diese Schmerzen akut auf.
Der chronische Schmerz begleitet diese Kinder in diesen Alltagsaktivitäten, hinzu kommen die Probleme des Wundliegens (Dekubitus), wobei dies nicht nur sich aufs Liegen bezieht, sondern auf die Haut unter den Inkontinenzhilfen, in der Sitzschale, in orthopädischen Schuhen und dergleichen mehr. Die Immobilisierung durch solche orthopädischen Hilfen aller Art kann Muskel- und Skelettschmerz hervorrufen.
Wir müssen damit rechnen, dass sehr schwerbehinderte Kinder einen großen Teil ihrer Energien auf ihre Schmerzen und ihre individuelle Schmerzverarbeitung verwenden müssen. Mit diesen Schmerzen fertig zu werden, diese Schmerzen zu ertragen, sich immer wieder von ihnen zu distanzieren, um sich dennoch etwas Angenehmen zuwenden zu können, erfordert Kraft.
Über diese Leistung sehr schwerbehinderter Kinder wurde bisher nach meiner Einschätzung noch überhaupt nicht nachgedacht. Es gibt Ansätze dazu bei nichtbehinderten, kranken Kindern, aber für die Gruppe der sehr schwer mehrfachbehinderten Kindern ist hier noch gedankliche Arbeit zu verzeichnen.
Wir wissen kaum, wie diese Kinder Schmerz verarbeiten. Andeutungsweise mag das Beispiel zu Beginn einen Hinweis geben: Eine Lokalisierung und damit eine Distanzierung vom Schmerz ist selten zu beobachten, die Kinder wirken so, als habe der Schmerz sie ganz im Griff. Möglicherweise ist das Körperselbstbild noch nicht so weit ausdifferenziert, dass es ihnen überhaupt möglich ist, Schmerz zu lokalisieren. Der unlokalisierte Schmerz ist ein totaler Schmerz und wird entsprechend total erlebt. Er ist in besonderer Weise bedrohlich, manchmal sogar von Vernichtungsgefühlen begleitet.
„Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“ Dieses gängige Sprichwort vermittelt eine Einsicht, die wir aus unseren Alltagserfahrungen bestätigen können. Wenn ich mit einem anderen Menschen über meinen Schmerz reden kann, wenn ich Anteilnahme spüre, geht es mir meist schon ein klein wenig besser.
Andererseits aber muss festgehalten werden, dass Schmerz eben nicht mit Anderen geteilt werden kann. Die individuelle Schmerzwahrnehmung zwischen Menschen ist verschieden. Es gibt keine objektive Schmerzklassifikation. Auch der Einsatz von Schmerzskalen führt nicht zu einer interindividuell-validierbaren Schmerzabstufung. Die Schmerzempfindung, also die persönliche individuelle Bewertung dieses Schmerzes als bedrohlich, vernichtend, erträglich, vernachlässigenswert, auch die lässt sich nicht von einem Menschen auf den anderen übertragen. Was für den einen ein entsetzlicher Schmerz ist, kann für den anderen etwas sein, was ihn nur mäßig belastet.
Das Schmerzverstehen („Es tut nur mein Knie weh, mein Knie ist nicht kaputt, es wird bald wieder vorbei gehen…“) ist von kognitiven Fähigkeiten abhängig, ist auch an Begrifflichkeiten und sprachliche Vermittlung gebunden. Wir sehen, dass hier für sehr schwer beeinträchtigte Kinder ein weiteres Problem auftaucht.
Die Schmerzerinnerung spielt eine vermutlich sehr große Rolle im Leben sehr schwerbehinderter Menschen. Die Körpererinnerung, wie Ursula Haupt sie immer wieder benannt hat, kann bei sehr schwerbehinderten Menschen negativ belastet sein, da ihr Körper immer wieder Eingriffen ausgesetzt ist, die trotz größten Bemühens unangenehm, belastend, eindringend und schmerzhaft sind. Ein immer wieder auftauchender und nicht schnell und gut kontrollierbarer Schmerz gräbt sich gewissermaßen in die Körpererinnerung tief ein. Die neurologische Forschung unter dem Stichwort Embodyment zeigt, dass körperlich Erlebtes auch körperlich präsent bleibt und in ähnlichen Situationen aktualisiert werden kann.
Das Schmerzmanagement, d. h. der selbstgesteuerte Umgang mit dem Schmerz, erfordert sowohl kognitive wie auch andere funktionelle Leistungen, begonnen von einer Schonhaltung über Selbstpflegemaßnahmen bis hin zum Aufsuchen eines Arztes oder zur Einnahme eines bereits bewährten und verordneten Medikamentes. Dies alles ist sehr schwer behinderten Kindern kaum möglich, sie werden in der Regel einem Fremdmanagement folgen müssen.
„Palliative Pädagogik“
Wie bereits angedeutet und im Erfahrungsbereich einer jeden Leserin nachvollziehbar können Schmerzen anderer Menschen nicht wirklich nachempfunden werden. Auch wenn diese Menschen uns nahe stehen, gelingt es nicht, die Schmerzqualität und Schmerzintensität nachzuvollziehen. Das Leiden an diesem Schmerz nehmen wir vielleicht wahr, wir können mitleiden, aber die direkte Vermittlung von Schmerzerfahrung akut oder chronisch ist nicht möglich. Es bleibt für Pädagoginnen jeweils nur der Rückgriff auf ähnlich scheinende eigene Schmerzerfahrung, die aber nicht unbedingt zu einer identischen Schmerzempfindung führen muss.
Schmerzbagatellisierung und Schmerzdramatisierung sind beide immer wieder in pädagogisch geprägten Situationen zu beobachten. Ein schreiendes Kind soll dadurch beruhigt werden, dass man ihm mit Worten klar macht, dass es ja gar nicht so weh tue. Beruhigung oder Hilfe bei der Schmerzbewältigung ? Auch eine Schmerzbagatellisierung oder als Gegenteil eine Schmerzdramatisierung weisen eher auf den erwachsenen Begleiter hin, als auf die tatsächliche Befindlichkeit des Kindes. Eine Wunde, fließendes Blut, ein wackelnder Zahn oder Schlimmeres lösen natürlich bei den Verantwortlichen, bei denen, die das Kind lieb haben, sofort Ängste aus. Je größer die Fachkenntnis im Umgang mit Schmerz oder möglichem Schmerz, desto ruhiger und ausgeglichener wird wohl gehandelt werden, desto weniger wird bagatellisiert oder dramatisiert.
Daher kann an dieser Stelle sehr nachdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arbeit mit sehr schwer beeinträchtigten Kindern auf jeden Fall Grundinformationen über Schmerzen allgemeiner und spezifischer Art haben müssen, um angemessen mit Kindern umgehen zu können. Es handelt sich hier nicht um eine Art Erste-Hilfe-Kurs in erweiterter Form, sondern um ein systematisches Wissen um Schmerz.. Fehlt dieses Wissen, fehlt die notwendige Kompetenz zu einer ersten Einschätzung, so werden viele Kinder Tag für Tag einem wesentlich höheren Stress ausgesetzt, als dies nötig wäre.
Die Frage nach dem eigenen Umgang mit Schmerz und Leid sollte für Pädagogen und Pädagoginnen ebenfalls eine Pflichtarbeit sein. Es geht nicht darum, die eigene Einstellung zum eigenen Schmerz unbedingt zu ändern, aber es geht darum, sich ihrer bewusst zu werden. Lebt man selbst mit Schmerz oder kennt mal ernsthafte Schmerzen (zum Glück) noch gar nicht, neigt man eher zu einer Schmerzleugnung, ist Schmerzvermeidung oberstes Ziel oder kann man auch doloristische Tendenzen bei sich beobachten?
Palliative Pädagogik hat ein Kernmerkmal: die Wertschätzung des Körpers. Der Körper ist nicht nur Materie, Träger von Funktionen, Hülle des Geistes und der Seele, sondern er ist unsere Existenzform auf dieser Welt. Jeder einzelne Körper hat seine unverwechselbare Gestalt, seine Individualität, über, durch und in diesem Körper lebt der einzelne Mensch. Ein Kind sollte unbedingt die Wertschätzung des Körpers mit jeder Geste, mit jeder Pflegemaßnahme, mit Gehaltenwerden erfahren. Sehr schwer behinderte Kinder erleben ihren Körper wohl immer wieder als Objekt fremder Tätigkeiten. Sie müssen sehr viel mehr Kontakte und Berührungen zulassen, um so wichtiger wird es, in diesen Kontakten und Berührungen die Wertschätzung immer mitklingen zu lassen. Ein schmerzender Körper ist immer ein schmerzender Mensch.
Über Berührung können wir den Körper des Gegenüber, in unserem Fall der Kinder, unmittelbar erreichen. Wir können ihn unmittelbarer erreichen als mit Worten. Berührung kann Sicherheit geben, Berührung kann Trost spenden, Berührung kann an Vertrautem anknüpfen, Berührung kann kleineren Schmerz erst einmal überdecken, Berührung zeugt von der Anwesenheit eines Menschen, der bei mir ist. Berührung wird somit zu einem wesentlichen Merkmal pädagogischen Arbeitens mit sehr schwer, insbesondere sehr schwer kommunikationsbeeinträchtigten Kindern.
Die Atmung und der Schmerz hängen eng zusammen. Bei großen Schmerzen wird die Atmung flach, die Bauchdecke spannt sich, tiefe Atemzüge sind kaum möglich. Bei einem plötzlichen Schmerz „stockt einem der Atem“. Durch begleitende Atmung, durch Intensivierung der kindlichen Atmung, z. B. so, wie Winfried Malls es vorschlägt, kann Schmerz erträglicher, distanzierter erlebt werden. Wir können Kindern durch begleitende Atmung die Möglichkeit geben zu entspannen, den Schmerz nicht zu steigern, Angst zu vermindern, mit dem Schmerz zu leben.
Die Folgen von Schmerz
Schmerz ist nicht nur eine Erscheinung, sondern sie hat auch Auswirkungen. Das Aushalten von Schmerz kostet Kraft. Schmerz ist ein Stressor. Menschen, die an chronischem Schmerz leiden, wissen davon zu berichten, dass Schmerz gewissermaßen müde macht. Die ständige Konzentration darauf, den Schmerz einigermaßen in Grenzen zu halten, erfordert offensichtlich große Anstrengungen. Der Körper selbst leidet unter dem Schmerz und verbraucht Ressourcen, um dabei weitere Funktionen einigermaßen aufrecht zu erhalten.
Schmerz, der von den Verantwortlichen nicht eingedämmt oder gänzlich beseitigt werden kann, führt oft zu einer sozialen Vereinsamung. Die Hilflosigkeit der Helfer einerseits und das Kreisen um den Schmerz des Betroffenen andererseits führt zu einem Auseinanderdriften der unmittelbaren Lebenswelten. Die Einen meiden den Patienten (= Leidenden), der Patient selbst schließt sich ein in einen Kokon aus Schmerz und Leiden und hat wenig Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Schmerz macht einsam.
Schmerz sollte daher nicht ignoriert werden, sondern mit Resonanz beantwortet werden. Unter Resonanz wird etwas verstanden, was man früher vielleicht einmal als Mitleiden beschrieben hätte. Um aber den Leidenscharakter und das Hilfloswerden der sozialen Umgebung zu vermeiden, soll Resonanz bedeuten, dass man als helfende oder begleitende Person den Schmerz nicht leugnet oder verdrängt, sondern ihn als präsent akzeptiert und sein Verhalten positiv danach ausrichtet.
Schmerz stumpft ab. Ein ständig jammerndes Kind, dem man „nichts recht machen kann“, wird im Lauf der Zeit mit seinem „Gejammere“ zu einem Störfaktor, den man umgeht, vermeidet. Die eigene Hilflosigkeit vor Augen geführt, möchte man den Kontakt lieber meiden, das Gejammere ignorieren. Man legt sich eine dickere Haut zu, lässt sich von den Schmerzäußerungen nicht mehr so berühren.
Manchmal, das wissen wir, kann ein Vor-sich-hin-Jammern ja wirklich hilfreich sein, entlastend, dem Schmerz Ausdruck geben, auch wenn sich dadurch nicht wirklich etwas ändert. Wir wissen allerdings nicht, wie dies für sehr schwer behinderte Kinder ist, ob sie eine solche Entlastungsfunktion wirklich erleben oder ob nur wir unsere Vermeidungsbestrebungen erkennen müssen.
Pflaster und Tee
Janosch hat in seinem Buch „Ich mach‘ dich gesund, sagte der Bär“ sehr gut beschrieben, was Kinder brauchen, um sich in einer Schmerz- und in diesem Falle in einer Krankheitssituation gut aufgehoben zu fühlen. Das Pflaster und der Tee sind Symbole für eine fürsorgliche, aufmerksame und wertschätzende Begleitung. Nicht nur im Kinderbuch, auch sonst kann ein Pflaster tatsächlich große Wirkung entfalten, weil das Kind erlebt, dass sich ein Erwachsener um es sorgt, ihm versichert, dass es jetzt besser wird. Auf das zerschundene blutende Knie kommt ein sauberes Pflaster, das schreckliche Blut hört auf zu fließen, es sieht alles nicht mehr so schlimm aus…. So würde ein nichtbehindertes Kind die Situation vielleicht erleben. Pädagogisch müssen wir nun versuchen, den uns anvertrauten Kindern in einer gewissen Analogie solche Sicherheiten zu vermitteln. Vielleicht ist hier schon eine größere Binde erforderlich, die mehr Druck ausübt, wo die eigentliche Handlung des Versorgens auch länger dauert und intensiver spürbar wird. Das kann aber auch das gewärmte Kirschkernkissen sein, es kann das Halten sein, es kann eine gute sichere gestützte und entspannte Lagerung sein, es kann so Vieles sein, was vielleicht auch schon zu Hause angewandt wird. Das Ritual dabei ist wichtig, es muss aber ernst genommen werden und natürlich funktionell sinnvoll.
Verlässlichkeit im Zusammenhang mit Schmerzen sehr schwerbehinderter Kinder scheint besonders betonenswert. Das Jammern, das Schreien, das sich Wälzen, das Zusammenkrümmen eines Kindes muss gesehen und unmittelbar beantwortet werden.
Michel Belot und seine Mitarbeiter haben mit ihrer Schmerzskala sehr schwerbehinderter Menschen ein gutes Instrument für solche Beobachtungen gegeben (Belot 2009). Ohne eine solche verlässliche Beobachtung und Beantwortung werden Kinder gewissermaßen dazu gezwungen, ihre Schmerzzeichen ständig zu erhöhen, gewissermaßen zu dramatisieren, bis hin zu dem, was dann von Pädagogen als herausforderndes Verhalten bezeichnet wird. Die Kinder wissen sich nicht anders zu helfen als immer deutlicher, immer intensiver auf ihre Schmerzen hinzuweisen. Es gibt aber auch Kinder, die sich zurückziehen in eine dumpfe depressive Schmerzerduldung. Dies hinzunehmen entspricht nicht unserem pädagogischen Auftrag.
Schmerzminderung
Schmerzminderung ist zunächst eine medizinische Aufgabe mit durchaus spezifischen Schwierigkeiten angesichts schwerster Behinderungen. Wirkungen, Nebenwirkungen und Langzeitauswirkungen sind komplex, auch der Schmerz als ein unmittelbares Zeichen für negative Veränderungen fällt in den medizinischen Aufgabenbereich. Schmerzminderung ist aber auch eine pflegerische Aufgabe und verlangt fachlich gut ausgebildete Mitarbeiterinnen. Erschwert wird die pflegerische Schmerzminderung häufig durch eine schwer zu erreichende Kooperation, durch die nicht einfache Kontrolle eines Erfolges aufgrund der wechselseitig eingeschränkten Kommunikation.
Schmerzbegleitung
ist eine heilpädagogische Aufgabe, wenn sie natürlich auch von Medizinern und Pflegenden geleistet werden kann oder muss.
Kinder brauchen eine emotionale Begleitung in Phasen besonderen Schmerzes oder auch bei akutem Schmerz. Da muss jemand sein, der mit ihnen leidet. Manche Kinder brauchen sogar jemanden, der ihr eigenes Leid zum Ausdruck bringt, weil sie noch so wenig differenzierte Möglichkeiten haben Emotionen wirklich zu leben. Manche Kinder scheinen nur ein pauschales Schreien für alle negativen Gefühle, für Wut und Angst, für Schmerz und Verlassensein zu haben. Hier ist es eine wichtige Aufgabe, Emotionen auch in der Begleitung zu differenzieren und dem Kind zu vermitteln, dass dieses schlechte, bedrohliche, fürchterliche Gefühl jetzt Schmerz ist.
Damit kommen wir zur sprachlichen Begleitung. Schmerz braucht einen Namen, braucht Begriffe und Worte, selbst wenn diese noch nicht in ihrer Unterschiedlichkeit aufgenommen oder gar benutzt werden können. Handlungsbegleitendes Sprechen hat auch hier seine Bedeutung. „Das tut so schrecklich weh“ ist eben etwas ganz Anderes als „Das macht mich furchtbar wütend“. Pädagogen haben die Aufgabe, sehr schwerbehinderte Kinder in die Benennung dieser Welt einzuführen, auch die Unterstützte Kommunikation hat sich in der letzten Zeit dieser Thematik gewidmet (vgl. Braun…….).
Kinder brauchen aber auch eine kognitive Begleitung – wie am Bespiel des Grossvaters gezeigt. Man kann ihnen über Berührung und über begleitende Bewegung bei der Entdeckung des eigenen Körpers helfen. Dazu gehört eben auch der Körper in Schmerzsituationen und die Differenzierung, welche Partien davon betroffen und welche frei von Schmerzen sind. Ein ausschließlich ganzheitliches Erleben überwältigt Kinder, die Differenzierung erleichtert das individuelle Schmerzmanagement.
Eine pädagogisch-fundierte Handlungsbegleitung betrifft eben dieses Schmerzmanagement des Kindes. Im Sinne einer Hinführung zu einer vermehrten Selbstbestimmung und Selbstständigkeit kann mit dem Kind erarbeitet werden, welche Zeichen es geben soll um auf Schmerz hinzuweisen. Es kann mit ihm erarbeitet werden, welche Entlastungssituationen möglich sind, welche Schonhaltungen es von sich aus finden kann.
Zur pädagogischen Schmerzbegleitung gehört auch, dass man Kindern versucht deutlich zu machen, dass der Schmerz langsam nachlässt, dass es einem besser geht und man sich wieder frei fühlen kann. Schmerzbegleitung konzentriert sich also nicht nur auf die negativen Empfindungen, sondern auch auf die positiven des Nicht-Schmerzes.
Zehn Thesen zum Schmerz und zur palliativen Pädagogik:
- Schmerz wird von jedem Kind individuell erlebt.
- Schmerz ist nur schwer mitzuteilen.
- Schmerz ist auch ein Kulturphänomen.
- Schmerz hat viele Ausdrucksformen.
- Schmerz bekommt für jeden Bedeutung.
- Schmerz macht einsam.
- Schmerz macht müde. Schmerz braucht Resonanz.
- Schmerz braucht Behandlung und Begleitung.
- Aber: Mit Schmerz kann man auch leben….
- Daraus folgt: Schmerz ist eine Herausforderung für PädagogInnen.
Schmerz ist eine Herausforderung für PädagogInnen. Wenn Schmerz eine Herausforderung für die in der Praxis Tätigen ist, dann muss Schmerz auch eine Herausforderung für die Pädagogik als Fachdisziplin und Wissenschaft sein. Pädagogik muss sich mit dem Schmerz und seinen Ausdrucksformen befassen und nicht nur auf indirekte Art und Weise beim Zusammenhang von Verhaltensauffälligkeiten und Schmerz. Schmerz hat auch etwas mit Lernen zu tun, ganz bestimmt mit individueller Entwicklung und Entfaltung, chronischer Schmerz ist eine chronische Benachteiligung, schränkt Partizipation massiv ein – hierüber muss geforscht und nachgedacht werden.
Literaturhinweise
Belot, Michel (2009)
Der Ausdruck von Schmerz bei mehrfachbehinderten Personen. Evaluation von Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung
In: Maier-Michalitsch a.a.O.
Braun, Ursula (2009) und Orth, Stephan
Schmerzen kommunizieren als elementarer Bestandteil zur Sicherung der Lebensqualität. In: Maier-Michalitsch a.a. O.
Caritasverband für die Diözese Augsburg (Hrsg.) (2011)
In Würde bis zuletzt – Hospizliche und palliative Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung, Augsburg
Döttlinger, Beatrix, et.al (Hrsg.) (2009)
Achtsamkeit, Berlin
Fröhlich, Andreas (2010)
Basale Stimulation in der Pflege – Das Arbeitsbuch, Bern
Herrmann, Iris (2006)
Schmerzarten – Prolegomena einer Ästhetik des Schmerzes, Heidelberg
Janosch (1985)
Ich mach dich gesund, sagte der Bär, Zürich
Maier-Michalitsch, Nicola (Hrsg.) (2009) Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, Düsseldorf
Mall, Winfried (2008) Kommunikation ohne Voraussetzungen: Mit Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. 6. überarbeitete Auflage, Heidelberg
Schiltenwolf, Marcus, Herzog, Wolfgang (Hrsg.) (2011)
Die Schmerzen (Beiträge zur medizinischen Anthropologie), Würzburg