Kreativität von Kindern mit schweren Behinderungen

Dieser Text war ursprünglich ein Beitrag zu dem Buch
Ausbildung und Kunst – die Bedeutung des Künstlerischen für
sozial- und heilpädagogische Berufe
Herausgegeben von Andreas Fischer
Bern 2006

Durch die kürzliche Begegnung mit einer jungen Heilpädagogin und Kunstvermittlerin wurde ich an diesen Text erinnert. Da das Buch leider nicht so sehr viel Verbreitung gefunden hatte, möchte ich meine Überlegungen hier nochmals vorstellen. Ich habe die literarische Form eines Briefwechsels gewählt, habe die persönliche Anrede verwendet – aber diesen Briefwechsel und die darin erwähnten Gespräche gab es so nicht, leider.

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Kreativität für Hans

Kreativität von Kindern mit schweren Behinderungen

Landau, den …

Lieber Hans,

hattest Du mich beim Weggehen noch nach Kreativität gefragt, oder bilde ich mir das nur ein? Jedenfalls lässt mich die Frage jetzt nicht mehr los und mit sehr vielem von dem, was ich gelesen habe, bin ich einfach nicht zufrieden.

Kreativität, das ist wieder einmal so ein Gedankenkonstrukt, bei dem man ja nun wirklich nicht sagen kann, dass Kreativität an sich exis- tiert. Wir tun so, als habe jemand Kreativität, als habe sich Kreativität in jemandem eingenistet und würde dort zum Wirken kommen. Dabei kennen wir doch nur Menschen, deren Verhalten uns immer wieder überraschend vorkommt, ganz speziell ihr künstlerisches Ausdrucksverhalten, die nennen wir dann kreativ. Die Schlussfolgerung, es gäbe so etwas wie Kreativität, beruht, so meine ich, auf einem sprachlichen Irrtum. Unsere Fähigkeit schnell ein Substantiv zu formulieren, ver- führt uns dazu, zu glauben, dass es dies als Sache, als Ding, als etwas Festes, Eigenes gäbe.

Also fange ich meine Antwort damit an, dass ich erst einmal Kreativität abschaffe. Ich will aber festhalten, dass es Menschen gibt, die dieses Überraschungsverhalten in ihrer beruflichen, in ihrer künstlerischen, in ihrer sozialen Verhaltensweise zeigen. Überraschung, unerwartetes Hervorbringen, das gehört ganz sicherlich zu dieser Frage, die Du mir vielleicht gestellt hast. Weiterlesen

Veröffentlicht unter Kunst

Andreas Fröhlich Schule

Vorwort

Klepsau im Tal der Jagst – da gab es bis vor wenigen Wochen eine kleine Schule für Kinder mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Seit 2001 trug diese Schule meinen Namen, Andreas Fröhlich-Schule. Ländlich, idyllisch, heimelig, naturverbunden – so könnte man die Situation beschreiben.

Nun ist die Schule umgezogen, in ein Schulzentrum, einen eher funktionell-sachlichen Neubau. Zusammen haben alle Schüler eine ebenfalls neue Mensa, einen angepassten, „barrierefreien“ Schul-Spielplatz / Pausenhof.

Begegnungen sollen möglich werden, gemeinsame Aktivitäten und gemeinsamer Unterricht, eine moderate Form inklusiven Unterrichts ist das Ziel der Veränderungen.

Die Eltern freuen sich, dass ihre Kinder nun zusammen mit allen anderen Kindern in die Schule gehen. Therapeutinnen und LehrerInnen sehen viele neue Aufgaben, die es zu meistern gilt.

Eine Einweihungsfeier fand statt, Bürgersaal, Mensa und Schule im Schulzentzrum von Krautheim an der Jagst ( in dieser kleinen Stadt tat Götz von Berlichingen seinen berühmten Spruch!). Auch jetzt, am neuen Standort in den neuen Gebäuden heisst die Schule Andreas Fröhlich – Schule und ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum für körperliche und motorische Entwicklung, einschliesslich Aussenklassen und Schulkindergarten (SBBZ).

Ein paar Gedanken sollte ich zur Einweihung beisteuern:

Zukunft und Chancen im Zentrum Krautheim

Immer möchten Menschen gerne in die Zukunft schauen, möchten wissen, was da auf sie zukommt, möchten sich vorbereiten, wappnen, schützen oder schon mal auf kommende Erfolge anstossen.
Ja, wenn man nur wüsste, was die Zukunft bringt.

Wir wissen es nicht und auch wissenschaftliche Prognosen sind nur etwas komplexere Wetten auf die Zukunft.
Aber Überlegungen kann man anstellen und Wünsche, die darf man frei formulieren.

Wir haben in den vergangen Jahren seit der Ratifizierung der UN Charta Rechte behinderter Menschen eine beeindruckende Bewegung erlebt, der es gelungen ist, die Lebensumstände vieler Menschen mit Beeinträchtigung in ein anderes, neues Licht zu rücken. Die alltäglichen kleinen und grossen Hindernisse, der heimlich oder offene Ausschluss, die Diskriminierungen – all das wurde vielen jetzt wirklich deutlich bewusst. Im Gesundheitswesen, in der Bildung, beim Bauen, im Beruf wurde „Barrierefreiheit“ ein zentrales Stichwort. Wir erleben derzeit einen deutlichen Wandel, behinderte Menschen werden mitgedacht, sie gehören dazu.

Als vor Jahren eine kleine Schule in Klepsau mich als Namenspaten gewählt hat, habe ich daran eine Bedingung geknüpft.

Niemals, so lautete diese, dürfe eine Kind „wegen der Schwere seiner Behinderung“ nicht aufgenommen werden. Mir liegen diese Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen besonders am Herzen, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie sich selbst kaum mitteilen können, dass sie in nahezu allen Aktivitäten des täglichen Lebens Hilfe und Begleitung brauchen. „Schwerstbehinderte“ Menschen eben. Leider – das muss man deutlich sagen – finden diese Menschen in der UN Charta keine Erwähnung. Schaut man sich alle die Hinweise im Text an, die sich konkret auf Menschen mit Behinderung beziehen, so wird man feststellen, dass an die Gruppe dieser Menschen nicht gedacht worden ist. Ihre Lobbyisten haben offenbar bei der Erstellung der Resolution gefehlt. Wieder einmal.

Und daraus würde ich gerne in Zukunft eine Chance für „meine“ Schule machen. Eine Schule, die versucht, wirklich für alle Kinder Partizipationsmöglichkeiten zu entwicklen. Will man sehr schwer und komplex beeinträchtigten Kindern Partizipationsmöglichkeiten erschliessen, so muss man die schon ein bisschen ausgetretenen Pfade des gemeinsamen Unterrichtes wahrscheinlich verlassen. Dabei sein, wenn andere etwas tun,

etwas hingehalten bekommen, mit dem andere arbeiten, ein farbiges Tuch übergelegt bekommen, das vielleicht für die anderen ein Symbol für etwas ist – das ist noch keine Partizipation.

Schule soll Bildung vermitteln – für alle. Ich beschreibe Bildung gerne als Partizipation am kulturellen Erbe der Menschheit.

Dazu gehört sehr viel, alles, was der Mensch im Laufe seiner vieltausendjährigen Geschichte entwickelt hat, Sprache, Schrift, logisches Denken, aber ebenso die Ausdrucksformen der Zuneigung, das Alphabet der Gefühle, die unterschiedliche Zubereitung des Essens und die Variationen des Geschmacks, die Kleidung, die Hygiene, das Konfliktmanagement im Alltag – all das ist kulturelles Erbe, an dem wir uns beteiligen wollen und sollen. Wir sollen nicht nur Anteil haben, etwas abbekommen davon, sondern wir sollen uns auch beteiligen, also unseren Teil dazu geben. dann erst kann von Partizipation die Rede sein.

Und das muss auch für Kinder, für junge und alte Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen gelten.

Ihre Erfahrung mit Schmerz, ihr Wissen um das Leben in Abhängigkeit, ihre Fähigkeit Stimmungen sensibel zu erspüren, ihre Kompetenz, Gefühlen unmittelbar Ausdruck zu geben – das muss als ein Teil unseres sich ständig weiter entwickelnden kulturellen Erbes wertgeschätzt werden.

Wenn nun die Andreas Fröhlich Schule sich im Schulzentrum Krautheim darauf einlässt, mit anderen Schulformen intensiv zu kooperieren, den Gedanken der Gemeinsamkeit in die Praxis umzusetzen, dann muss auch diese besondere Lebenswirklichkeit ein Teil des Ganzen werden.

KInder sind nicht gleich, es gibt keine wirkliche Homogenität der Schülerinnen und Schüler, ihre Lebensumstände sind verschieden, sehr verschieden oft.

Die Begegnungen mit Kindern aus Familien, die Flucht, Vertreibung, Krieg, Angst, Todesgefahr, Gewalt und Hilfsbereitschaft erfahren haben, zeigt uns deutlich – wenn wir die Augen nicht verschliessen – wie unterschiedlich Kinderleben sein können. Und wie behutsam man daran gehen muss, eine gemeinsame positive Erfahrungswelt für Kinder aufzubauen. Auch für die, denen bislang – und Gott sei Dank – nichts Schlimmes zugestossen ist.

Aber auch sehr schwer behinderte Kinder sind „Überlebende“. Ihre Schwangerschaft, die Geburt, die frühe Zeit danach waren wahrscheinlich extreme Krisenzeiten. Eine Krankheit, ein Unfall, eine genetische Veränderung haben sie an den Rand des Lebens gebracht, sie konnten gerade noch auf die Seite des Lebens gezogen werden. Da gibt es viele nachdenkenswerten Gemeinsamkeiten.

Für mich wäre es ein starker Wunsch, wenn die Kinder aus den wohlbehaltenen Familien, die Kinder, deren Lebensweg als Karriere schon vorgezeichnet scheint, etwas davon partizipieren könnten, was es heisst zu überleben. Wie grossartig es sein kann, einfach am Leben Teil zu haben, mit anderen Kindern zusammen. Das ist nicht zuerst eine Frage der richtigen didaktischen Vorbereitung, das hat auch wenig mit dem passenden Arbeitsmaterial und schon gar nichts mit dem Erreichen des Klassenzieles zu tun. Schule sollte ( manchmal wenigstens) erkennen können, dass sie für die Kinder da ist, dass sie den jungen Menschen einen Platz zum Leben anbieten soll, durchaus auch zum Lernen. Aber bitte nicht zum Lernen von „Stoff“, der seinen Sinn schon verliert, wenn er einmal abgefragt ist.

Durch ein allzu enges Verständnis von Bildung schafft sich das System Schule selbst Schwierigkeiten, produziert gewissermassen die Kinder selbst, die dann als schwierig gelten.

Ich hoffe, dass die Andreas Fröhlich Schule im Schulzentrum Krautheim mit „Gedankenfrische und Offenheit“ einen Beitrag zur Lebenswelt Schule einbringen kann. Zusammen mit „schwierigen“, mit geistig und körperlich beeinträchtigen, in ihrer Wahrnehmung, in ihrer Bewegungsfähigkeit, in ihrem Denken und auch Fühlen sehr unterschiedlichen, ja, manchmal „fremden“ Kindern, kann man auch die Welt anders, differenzierter und bunter sehen.

Das wären doch Chancen und Hoffnungen, oder?

 

 

 

Eine Sprache der Nähe

Eine Sprache der Nähe… genau das wäre es.
(Hanns-Joseph Ortheil, Liebesnähe S.286)
Aspekte einer Begegnung auf der Grenze.

Grenzerfahrungen sind nach Karl Jaspers jene Erfahrungen im Leben eines Menschen, in denen er nicht mehr auf Vorerfahrungen, auf Routinen, auf Gewohntes zurückgreifen kann. Es sind Erfahrungen, die ihm deutlich werden lassen, dass er an die Ränder seines bisherigen Lebens kommt. Solche Grenzerfahrungen sind in der Begegnung mit lebensverkürzend erkrankten Kindern eher die Regel als die Ausnahme. Und zwar im doppelten Sinn, die Kinder selbst geraten an die Grenzen ihrer bisherigen Welt, an die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrungen und wohl auch an die Grenzen ihrer Vorstellungen. Aber auch die Familie findet sich in Situationen, in denen sie nicht auf Erfahrung, Wissen, erworbene Kompetenz zurückgreifen können.

Diejenigen, die ehrenamtlich oder beruflich sehr schwer erkrankte Kinder begleiten, haben sich im Lauf ihrer engagierten Arbeit natürlich gewisse Erfahrungen angeeignet. Sie können ganz sicher auf einiges zurückgreifen, was ihnen, den Kindern und ihren Angehörigen hilft, mit der Grenzsituation ein wenig besser zurecht zu kommen.

Ich möchte Möglichkeiten andeuten, mit sehr schwer und mehrfach behinderten Kindern in Kontakt zu kommen und in Kontakt zu bleiben. Diese Kinder sind schon in ihren „gesunden Tagen“ eine spezielle Herausforderung für unsere Kommunikationsfähigkeit. Ihre Mimik, ihre Stimme, vor allem aber ihre meist nicht vorhandene Sprache, werden uns sehr schnell an die Grenzen unserer eigenen Kommunikationsfähigkeit bringen. Wir werden eben schnell hilflos, wenn es uns nicht gelingt, unser Gegenüber anzusprechen oder aber unser Gegenüber zu verstehen. Die Kommunikation bricht zusammen, es kann das Gefühl entstehen, man habe nichts mehr gemeinsam. hier können Sie den Vortrag herunterladen …

 

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Umberto Eco

Nun ist also auch Umberto Eco gestorben. Die Feuilletons werden ihn würdigen, seine wissenschaftlichen Leistungen in der Semiotik, seine Wirksamkeit als europäischer Intellektueller.
Vor allem aber als Schriftsteller, der in Deutschland ein besonders grosses Leserpublikum hatte und hoffentlich noch lange haben wird. Der Autor von „Der Name der Rose“, „Die Insel des vorigen Tages“, „Das Foucaultsche Pendel“ , meines persönlichen Lieblingsbuches „Baudolino“ und vieler kleinerer witziger, intelligenter und kritischer Schriften, hat auch ein Buch verfasst, das nicht in die Bestsellerlisten kam, das aber aus dem Blick der Rehabilitiationswissenschaften einer besonderen Erwähnung würdig ist:

Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, erschienen 2004.

Wie schon in meinen Gedanken an Roger Willemsen angedeutet, handelt es sich bei der Königin Loana um einen fast klassischen Entwicklungsroman, der auf einem fiktionalen Koma mit anschliessender retrograder, fast vollständiger Amnesie, also einem totalen Gedächtnisverlust, basiert.
Der Ich-Erzähler muss sein Leben neu entdecken, er findet sich in einer Umgebung – einem Buchladen – mit ihm unbekannten Menschen wieder, von denen er nicht einmal weiss, in welchem Verhältnis er zu ihnen gestanden hat.
Ist das seine Frau, die da im Laden steht? Ist es nur eine Angestellte? Hat er vielleicht eine Affaire mit ihr? Hat er eine gehabt und ist sie beendet – er weiss es nicht mehr.

Die eigentliche „Geschichte“ besteht darin, dass Eco als Ich-Erzähler uns auf eine literarische Entdeckungsreise in die von ihm über viele Jahre gelesene Literatur mit nimmt. Literatur, die seine Person gebildet und geformt hat, die ihn als Person ausmacht.
Das wird nun für den Leser spannend – oder auch langweilig. Man kann dem Autor nämlich bald nicht mehr folgen, wenn man die Bücher, Zeitschriften und vor allem die vielen Comics, auf die er sich bezieht, nicht kennt. Selbst, wenn man belesen ist, wird es schwierig, denn seine Comic – Lesezeit dürfte ca. 70 Jahre zurück liegen. Wer von uns kennt italienische Comics aus dieser Zeit?

Wie bei Eco nicht anders zu erwarten, ist das alles sprachlich und stilistisch überaus gut gelungen, man kann das Buch allein von da aus mit Vergnügen lesen, wenn man am Lesen über das Lesen Vergnügen hat.
Fast 500 Seiten sind da zu lesen, ein dickes Taschenbuch.
Und am Ende ein Satz, der angesichts seines Todes neue Bedeutung bekommt:

Ich spüre einen kalten Hauch, ich hebe die Augen
Warum wird die Sonne auf einmal so schwarz?

In Erinnerung an Roger Willemsen

kleine lichterBildschirmfoto 2016-02-19 um 22.15.31 In Erinnerung an Roger Willemsen, gestorben im Februar 2016.
Vor etlichen Jahren fiel mir auf, dass damals zunehmend Romane auf den literarischen Markt kamen, die Koma oder Wachkoma zum Thema hatten. Bedeutende Schriftsteller, grosse Romanautoren, aber auch Kriminalroman- Schreiber und weniger begabte Unterhaltungsschriftsteller beteiligten sich an dieser Thematik. War es eine Mode?
Insgesamt gut vierzig Romane las und untersuchte ich, Studierende halfen mir dabei, steuerten ihre eigene, deutliche „jüngere“ Sicht bei.
Ich möchte dieses Thema heute noch einmal aufgreifen, vielleicht irgendwann auch nochmals aktualisieren. Ein Ausschnitt aus dieser nie veröffentlichten Arbeit, die ich bisher nur einmal in Form eines Vortrages vorstellte:
Die herangezogenen Romane befassen sich zentral oder am Rande mit dem Phänomen Koma bzw. Wachkoma. Von den Autoren wird häufig kein Unterschied zwischen den beiden Formen gemacht, man darf vermuten, dass der Unterschied ihnen nicht wirklich bekannt ist oder ihnen vernachlässigbar erschien. Oft genug geht es um ein – fachlich gesehen – fiktionales Koma, dem aber im Roman hohe Bedeutung zukommt. Sprechen wir im weiteren Verlauf vom Motiv Koma bzw. Wachkoma, das sich in bis jetzt etwa 40 Romanen gefunden hat. Dieses literarische Motiv Koma/Wachkoma beeindruckt offensichtlich viele Autoren durch seine Radikalität, durch die Infragestellung der meisten, ansonsten für Menschen als unverzichtbar angenommenen, Eigenschaften eines Menschen. Im Sinne Karl Jaspers handelt es sich bei Koma um eine Grenzsituation, die offensichtlich literarisch sehr reizvoll zu sein scheint. So eine Situation wurde vorher nie erlebt, es gibt kein Beispiel, an den man sich orientieren kann, man betritt absolutes Neuland. Weiterlesen

Was ist ein Kind? Was braucht ein Kind?

Vor drei Jahren schrieb ich erstmals an diesem Text. Ein Enkelkind war gerade auf die Welt gekommen, unter recht dramatischen Umständen. Dem Kind heute geht es gut, es ist gesund und entwickelt sich ganz normal. Und jetzt wieder ein Kind, wieder scheinen wir alle zusammen Glück gehabt zu haben. Was nicht selbstverständlich ist. Wir sind froh.

Dieses Kind wurde von vielen erwartet, vom älteren Geschwisterkind, von den Eltern, den Großeltern, von Tanten und Onkeln, vom Cousin und den Cousinen. Erwartungen entstanden bei allen, stille Hoffnungen und unbenannte Sorgen. Das Kind kommt in eine Familie, die ihm einen Platz zuweist. Drum herum Freunde und Bekannte, Nachbarn, die Hebamme und die Ärztinnen in der Klinik, alle mit einem Bild von diesem Kind.

Diese Bilder werden wirken. Die Erwartungen warten auf Erfüllungen, das Kind ist zum „Zukunftsträger“ der Familie geworden – und so lange es noch sehr klein ist, noch kaum „Individualität“ entwickelt hat, desto leichter lässt es sich mit solchen Erwartungen versehen. Diese sind meist nicht bewusst, sind nicht ausformuliert, stellen keine Forderung dar – aber sie sind da und bestimmen die weitere Entwicklung mit.

Meine Perspektive ist die des Großvaters, eines Großvaters, es gibt ja noch den anderen. Ich bin altersmäßig sehr weit weg von diesem Kind. Innerhalb der engeren Familie stellen wir die beiden Pole dar, zeitlich betrachtet.

Bin ich nun reif, geschickt, mündig, entwickelt, wissend, gebildet – bin ich vielleicht fertig in der doppelten Bedeutung des Wortes? Bin ich ruhig oder verbraucht? Vieles davon ist eine Frage der Perspektive. Ist mein neugeborenes Enkelkind unreif, ungeschickt, unmündig, unentwickelt, unwissend, ungebildet, unfertig, ständig unruhig? Oder doch eher unverbraucht?

Das „un-“ signalisiert, dass man Babys für nicht oder noch nicht ganz entwickelt halten könnte, dass sie eine „Vorform des Eigentlichen“ sind. Mit guten Gründen kann man eine solche Sicht kritisieren, dies wurde auch schon oft getan. Wenn wir heute davon ausgehen, dass Kinder nicht nur eine frühe Minusvariante der Erwachsenen sind, sondern eigenständig und in ihrer jeweiligen Entwicklung so etwas wie perfekt, dann muss das auch für die Pädagogik sehr schwer beeinträchtigter Kinder Konsequenzen haben.

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Schmerzausstellung

DSCF6901Meine Bilderserie Schmerz gehört nun der Stiftung leben-pur in München und wird auch von ihr „verwaltet“. Man kann sie ausleihen, man kann sie zu einer Veranstaltung oder auch zu einer Ausstellung nutzen. Das muss dann mit der Stiftung abgesprochen werden.
An der Gründung dieser Stiftung war ich beteiligt, ich fühle mich ihr sehr verbunden. Menschen mit schwersten Behinderungen sind das gedankliche Zentrum dieser Stiftung. Fortbildungen, Publikationen und spezielle Schulungen werden angeboten, um Menschen mit schwersten Behinderungen ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. (www.stiftung-leben-pur.de)
Schmerz ist häufig ein ständiger Begleiter für diese Menschen, Schmerzvermeidung und Schmerzreduktion sind wichtige Aufgaben einer Palliativen Pädagogik und einer sorgsamen Pflege.
Meine Bilder können Anstoß zum Nachdenken geben…

Partizipation von schwerbehinderten Menschen

Heft 2/ 2015 der österreichischen Zeitschrift  für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten behinderte Menschen widmet sich ausdrücklich der Partizipation von schwerbehinderten Menschen.

Der Herausgeber, Prof. Dr. Josef Fragner, Direktor der Pädagogischen Akademie Linz, hat einige „graue Querköpfe“ zusammengebracht, die sich mit dieser Thematik befassen: Ursula Haupt, Wolfgang Jantzen, Michael Schwager, Heinz Becker. Ich durfte auch einen Artikel beisteuern. Hier die letzten Abschnitte.

…am Ende dieser Überlegung möchte ich mit Leidenschaft die Frage stellen, ob denn unsere  eigene Welt wirklich „die Welt“ darstellt. In unserem heilpädagogisch – sozialen Weltbild dominieren bestimmte Wertvorstellungen, bestimmte Lebensentwürfe und symmetrisch dazu bestimmte Ablehnungen. Den meisten ist dies nur gelegentlich bewusst, manchen nie.

Unsere Tagesabläufe sind in ähnlicher Weise organisiert, die Arbeitsinhalte sind ähnlich, die beteiligten Berufsgruppen haben eine ähnliche Ausbildung, die Bezahlung ist ähnlich…

Was eine wertvolle Beschäftigung für Menschen mit Behinderung ist, darüber besteht im Großen und Ganzen Konsens, hinterfragt wird das nur selten. Arbeit gilt als Zentrum des Lebens und hat so einen außerordentlich hohen Stellenwert, der Mensch findet seinen Sinn in Arbeit und dies sollte auch, so unsere pädagogische Überzeugung, für Menschen mit sehr schwerer Behinderung gelten.

Arbeit wird meist mit Produktion gleich gesetzt, fünf Stück sind besser als drei. Meist herrscht ganz selbstverständlich ein „Diktat der Gruppe“. Möglichst alles soll gemeinsam getan und erlebt werden und das soll dann auch noch erfreulich sein. Einzelgängertum, Zurückgezogenheit, individuelle Sichtweisen gelten als wenig erwünscht. Selbst die Art der Kleidung hat eine gewisse Uniformität und die Ernährungsüberzeugungen ähneln sich auch.

Dass die Räume fast überall gleich gestaltet sind, versteht sich fast schon von selbst.

Mir scheint, der heilpädagogische Durchschnitt droht ständig; ein Durchschnitt, der das Besondere kappt, alle Menschen auf ihr Mittelmaß zurückführt, sie dadurch immer verwechselbarer und austauschbarer macht. Im neuen Fachjargon heißt dies nun „Mainstreaming“ – besser wird es dadurch nicht.

Privacy (Brandeis u. Warren), das Recht in Ruhe gelassen zu werden, dieses Recht möchten Pädagogen in der Regel nicht allzu sehr berücksichtigen.

Pädagogik will ja nicht in Ruhe lassen, sondern anregen, begleiten, führen, stimulieren, beraten, lehren, anleiten, zurückhalten, korrigieren – kurzum etwas mit den Menschen machen, etwas aus den Menschen machen – als wären sie ohne uns nicht schon Menschen.

Angesichts der Frage um die Teilhabe möchte ich gerne in Erinnerung rufen: Alle Menschen sind nicht gleich, überhaupt keine Menschen sind gleich. Sie brauchen nicht das Gleiche, sie wollen nicht das Gleiche und sie können nicht das Gleiche – schon gar nicht zur gleichen Zeit!

Bedürfnisse, Wünsche, Fähigkeiten von Menschen sind unterschiedlich, das heisst, jeder Mensch hat andere Wünsche  Dem widerspricht nicht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber dieses „gleich“ ist ein anderes „gleich“.

Wenn also die Menschen nicht gleich sind, sondern verschieden, dann sollten wir in unseren Berufsfeldern auch nicht nach Einheitslösungen suchen, nach Einrichtungen, nach Unterrichtsformen, nach Therapien und Interventionen, die man in gleicher Weise für alle einsetzen und anwenden könnte. Denken Sie an die Gefahren des pädagogischen Traums: “alle alles“. Diese Träume haben die Tendenz, total, ganz umfassend für jeden Bereich gültig sein zu wollen. Sie werden totalitär.

Andreas Fröhlich

Basale Stimulation?

Kurzmitteilung

Vorwort/Gedanken zur Buchbesprechung „Revolution der Seele – die Geburt der Psychoanalyse“ George J. Makari


Für die Leser auf dieser Website stellt sich sicherlich die Frage, warum diese Rezension hier auf dieser Seite angeboten wird. So eng sind die Beziehungen zur Psychoanalyse nicht, wenige psychoanalytisch vorgebildete oder gar therapeutisch Tätige sind auch im Konzept Basale Stimulation beheimatet.

Es kommt ein ziemlich vermessener, aber dennoch nicht gänzlich unmöglicher Gedanke hinzu.

Da „erfindet“ einer, nämlich Dr. Freud, etwas Neues. Er entwickelt einen neuen gedanklichen Zugang zur Seele und ihrer Dynamik. Er erkennt, welche Bedeutung sie für jeden einzelnen Menschen und für das menschliche Zusammenleben hat. Da gibt es einen neuen Verstehensversuch, der fasziniert, bringt neue Perspektiven, vor allem auch neue Therapien und Heilmöglichkeiten.

Andere kluge Köpfe kommen hinzu, Männer und Frauen, Patientenerfahrung fließt ein. Es entsteht eine größere werdende Aufmerksamkeit, Lernende, Studierende wollen zusehen, wollen etwas übernehmen, selber machen und weiterentwickeln. Es gibt eine Ausbildung, es entstehen Meister-Schüler-Verhältnisse, Lehrsätze werden formuliert, schriftliche Festlegungen erfolgen, um die Gruppe, die sich ständig vergrößert, auch inhaltlich, gedanklich zusammen zu halten.

Ein Konzept entsteht.

Wer sich für Basale Stimulation als Konzept interessiert, der kann aus Makaris Buch einiges nehmen. Das geht nicht eins zu eins, Makari schreibt über Freud, schreibt über eine etablierte, weltweit anerkannte und auch kritisch betrachtete Therapie. Es wäre zu hoch gegriffen, hier einen direkten Vergleich ziehen zu wollen. Dennoch: Jährliche Treffen, Kongresse werden organisiert, eine internationale Vereinigung wird gegründet.

Unterschiedliche Berufsgruppen, unterschiedliche kulturelle Hintergründe, verschiedene Religionen geeint in dem Bemühen um Verstehen des Menschen und auf der Suche nach Möglichkeiten der Begleitung sind durchaus Vergleichbarkeiten.

Es ist manchmal sehr beruhigend zu sehen, dass Andere, Größere, längst Anerkannte ganz ähnliche Schwierigkeiten zu meistern, kritische Phasen zu durchlaufen hatten. 

Die Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlich Orientierten, mit den Standardisierern, mit den heutigen Vertretern einer Evidenz basierten Medizin oder Pflege begleitet auch die Psychoanalyse. Auch sie erweist sich oft als zu komplex, als zu ganzheitlich in ihrem Anspruch, als dass eindeutige lineare, kausale Wirksamkeitsprüfungen vorgenommen werden könnten. Ein Problem, eine Schwierigkeit, eine Herausforderung, für die sich noch Lösungen finden müssen…

Unter diesem Aspekt hat sich für mich die Beschäftigung mit Makaris Darstellung gelohnt.

Es wird bestimmt ein Buch bleiben, in das ich immer wieder hineinschaue. Dank des gut gegliederten Namens- und Sachverzeichnisses wird es eher ein Nachschlagewerk werden als eine fortlaufende Bettlektüre.

 

Nachwort

 

Für Pädagogen, besonders Heilpädagogen, ist die Psychoanalyse oder in einem weiteren Sinn die Tiefenpsychologie nicht wegzudenken, sie ist unverzichtbar, wenn auch sicherlich nicht „alternativlos“. Die Arbeiten von René Spitz gehören zum festen Bestand der Hospitalismusforschung. Die kinderpsychologischen Betrachtungen von Anna Freud, der Tochter Sigmund Freuds, sind nach wie vor bedeutsam. Bettelheim und Maud Mannoni haben Wichtiges beigesteuert. Der Schweizer Hans Zulliger, der mich in meiner Arbeit sehr stark beeinflusst hat, oder auch Victor Frankl, der für die Pflege einige Bedeutung hat.

Alfred Adler und sein Gedanke vom „Körper – Ich“ sind im Konzept Basale Stimulation nicht weg zu denken.

Die Reihe ließe sich lange fortsetzen, hier soll nur angedeutet werden, dass psychoanalytisches Denken nicht eine exotische Disziplin auf der Couch ist, sondern hilft, das Leben und die individuelle Entwicklung besser zu verstehen.