Prof. Dr. Irenäus Eibl-Eibesfeld

Ein verspäteter Nachruf

Irenäus Eibl-Eibesfeld, Prof. Dr. ist am 2. Juni 2018 gestorben.

(geboren 1928 in Wien)

Er war kein Pädagoge, kein Mediziner, niemand, den man in der Heilpädagogik genannt hat. Er arbeitete u.a. auf den Galapagos Inseln, befasste sich mit Tierverhalten und arbeite dann an der Entwicklung der Humanethologie. Diese neue Wissenschaft vom biologisch basierten, aber keineswegs ausschliesslich biologisch gesteuerten Verhalten des Menschen brachte Einsichten hervor, die auch für meine Arbeit – Unterstützung und Begleitung von Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen – wichtig und richtungweisend waren.

Eibl-Eibesfeld beschrieb das „Lächeln als angeborene Ausdrucksbewegung“, er beobachtete nach seinen strengen Kriterien die Entwicklung des Lächels bei einem taub-blind geborenen Kind. Ohne dass dieses Kind sich die Mimik seiner Eltern absehen konnte, ohne dass es die Laute hörte, die ein Lächeln und Lachen begleiten, entwickelte es eigenständig die Fähigkeit zu lächeln.

Für uns in der Arbeit mit sehr schwer behinderten Kindern stellte sich die Frage analog: manche Kinder lächelten, andere nicht. Woran lag dies. Und wie könnte man ihnen helfen, das sozial so wichtige Minenspiel des Lächelns zu entdecken und auch einzusetzen?

Die Arbeit von Eibl-Eibesfeld ermutigte uns, die basale Fähigkeit des Lächelns ernst zu nehmen. Bei einigen Kindern entdeckten wir sie dann beim Schaukeln, das wir ihnen in unserer sog. Wackeltonne erstmals anboten. Für Eltern war es beglückend, ihr Kind nach Jahren erstmals lächeln zu sehen.

Und eine weitere wichtige Erkenntnis verdanken wir indirekt Eibl-Eibesfeld.

In seinem Buch „Liebe und Hass“ beschreibt er seine ethologischen (aufs Verhalten bezogenen) Studien zur Mimik bei Begegnungen zwischen Menschen. Er entdeckte in seinen Filmaufnahmen ein sehr kurzes, bewusst eigentlich nicht wahr genommenes, Heben der Augenbrauen, das dem gegenüber eine freundlich-aufmerksame Annäherung signalisiert. Fehlt dieses Heben der Augenbrauen wird die Begegnung als tendenziell aggressiv aufgefasst und die Reaktion besteht zumindest in Distanz und Vorsicht.

Wir konnten mit technisch vergleichsweise bescheidenen Filmaufnahmen zeigen, dass bei Kindern mit ausgeprägten spastisch- athetotischen Bewegungsstörungen dieses Heben der Augenbrauen nicht funktioniert und so zur Irritation des Gegenüber beiträgt. Wir formulierten daraus: sehr schwer behinderte Kinder erleiden aus einer Funktionsstörung, die niemandem bewusst ist, eine sozial-emotionale Benachteiligung in Form sozialer

Distanzwahrung oder Abwendung.

Zwar konnten wir diesen Kindern kein Angebot machen, das die Funktionseinschränkung kompensierte, aber immerhin hatten wir nun für uns und andere Erwachsene Kontaktpersonen eine Erklärung für unser eigenen, uns oft selbst befremdliches Kontakt-Vermeidungs-Verhalten und konnten dies überwinden.

Von der Humanethologie lernten wir ganz grundsätzlich auch kleine Verhaltenskomponenten zu beobachten, die Funktion von Verhaltenselementen ernst zu nehmen und nach Alternativen zu suchen, um Kommunikation und Begegnung positiv zu gestalten.

Herrn Eibl-Eibesfeld habe ich nie persönlich kennen gelernt. Das bedauere ich sehr – aber in dieser frühen Zeit unserer Arbeit hätte ich mich nicht getraut einen so berühmten Mann zu kontaktieren. Bei Hanus Papousek, dem Entdecker des Baby-Talk ist mir das dann nicht mehr passiert. Die Humanethologie scheint derzeit etwas in Vergessenheit zu geraten, die entsprechende Forschungsstelle des Max-Planck-Institutes Seewiesen existiert so nicht mehr. Aber es lohnt sich – wenn man ernsthaft arbeiten will – seine Publikationen zu lesen.

Drei wichtige Titel von I. Eibl-Eibesfeld:

– Die Biologie des menschlichen Verhaltens

– Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung ( sehr wissenschaftlich gehalten)

– Liebe und Hass – zur Naturgeschichte des menschlichen Verhaltens ( gute lesbar)

Quelle: Foto http://www.humanetho.de/

Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen

… mit Schmerzen, Schmerzerleben und Schmerzverarbeitung befasse ich mich nun schon seit einigen Jahren. Sie finden auf dieser Web-Site einige künstlerische Grafiken zu diesem Thema.
Nun möchte ich meinen ersten Text zum Thema Schmerz gerne zugänglich machen. Zuerst erschien er in der Zeitschrift für Heilpädagogik 4/2012. Eine etwas gekürzte, aber auch pflegerisch angepasste Version erschien jetzt in Schmerz und Schmerzmanagement, 1/18. (Themenschwerpunkt: Schmerzen und Behinderung)
Hogrefe Verlag, Bern.

Lesen Sie hier die erste, ursprüngliche Textversion.

Andreas Fröhlich

(Heil-) Pädagogik und Schmerz

Wenn man ernsthafte Schmerzen hat, sollte man zum Arzt gehen. Schmerzen sind eindeutig etwas, was dem medizinischen Feld zuzuordnen ist. Der Schmerz als Warnzeichen, der Schmerz als Indikator für eine körperliche Störung.

Schmerz kann umgangssprachlich allerdings auch mit Leid verwechselt werden. Der seelische Schmerz – das Leid – tut oft noch sehr viel mehr weh als ein körperlicher. Dies gilt für Erwachsene, für junge Menschen und genau so auch für Kinder

Schmerz und Leid gehören leider zum menschlichen Leben dazu, völlige Schmerz- und Leidfreiheit wird wohl kaum zu erreichen sein. Dennoch herrscht Einigkeit dahingehend, dass Schmerz und Leid keine wünschenswerten Zustände sind, dass sie vermieden werden, dass sie ggf. auch therapeutisch angegangen werden sollten.

Was könnte nun Pädagogik mit Schmerz zu tun haben? Wir wissen, dass die Vermeidung von Schmerz ein menschliches Grundbedürfnis ist, dass Kinder, die unter starken Schmerzen leiden, in ihrer Erkundungs- und Spielfreudigkeit eingeschränkt sind, dass Lernen nur schwer möglich ist, wenn große Schmerzen ein Kind gewissermaßen ausfüllen und vollständig in Anspruch nehmen.

Das kann man mit „pädagogischen Augen sehen“, aber kann Pädagogik etwas gegen Schmerzen tun? Weiterlesen

Primäre Kommunikation

Andreas Fröhlich

Primäre Kommunikation (hier klicken)  PDF zum Herunterladen


Zusammenfassung

Mit dem Somatischen Dialog als einer eher körper-geprächsorientierten Form der Problembewältigung und der Primären Kommunikation für den Alltag stehen zwei verwandte Ansätze zur Verfügung, die die „Sprachlosigkeit“ in pädagogischen wie in pflegerischen, aber auch in privat-persönlichen Beziehungen mit sehr schwer beeinträchtigten Menschen ein wenig mildern können.

Es werden keine neuen, unbekannten Kommunikationselemente benutzt, sondern ausschliesslich solche, die eigentlich schon immer im menschlichen Kommunikationsrepertoire vorhanden waren. Sie werden intensiver, strukturierter und geplanter eingesetzt, die Kommunikationsinhalte werden reduziert, vereinfacht und konzentriert.

Kommunikation findet z w i s c h e n Menschen statt, eine Beeinträchtigung der Kommunikation beeinträchtigt gleichermassen alle beteiligten. Wenn wir die Kommunikationsebene wechseln, von der gesprochenen Sprache zu Bewegung und Berührung übergehen, so haben wir die Möglichkeit, uns wechselseitig zu erreichen.

 

Primäre Kommunikation

Basale Stimulation war von Anfang an als eine Art Zugang zu Menschen mit sehr schweren und umfänglichen Einschränkungen gedacht. Menschen, die als „nicht ansprechbar“ galten; Kindern die als „taub und blind“ diagnostiziert waren; Menschen eben, zu denen auch vertrauteste Personen wie die eigenen Eltern, keinen Zugang finden konnten. Die sichtbare Schwere der körperlichen Beeinträchtigung, die massiven Entwicklungsverzögerungen, die als Folge einer umfänglichen geistigen Behinderung galten und die vielfältigen Sinneseinschränkungen ließen zunächst glauben, dass mit diesen Menschen Kommunikation einfach nicht möglich sei.

Jahre später, als Basale Stimulation von der Pflege „entdeckt“ wurde, wiederholte sich dieser Eindruck in Hinsicht auf „bewusstlose“ Menschen, bei denen ja gerade die Nicht-Ansprechbarkeit kennzeichnend war.

Basale Stimulation sah sich schon früh als Kommunikationshilfe, als eine Art gemeinsamer Sprache, die es allerdings von beiden Seiten her zu entdecken galt. Ausgehend von der körperlichen Anwesenheit dieser „nicht Ansprechbaren“ konnte doch ein körperlicher Kontakt hergestellt werden. Berührung, zunächst nur physische Berührung, war möglich. Ob daraus auch ein psychisches „Berührt-Sein“ entstehen konnte, das musste sich erst zeigen.

Im Konzept Basale Stimulation wurden alltägliche, förderliche, spielerische und auch pflegerische Berührungen so strukturiert, dass sie über die reine Funktionalität hinaus auch Bedeutung für die berührte Person bekommen konnten. Eine stärkere Rhythmisierung, eine eindeutige und einfache Wiederholung der einzelnen Berührungen konnten dabei helfen, der betroffenen Person deutlich zu machen, dass hier etwas Bedeutsames zu spüren war. Bewusste Pausen, geplantes Innehalten, um dann wieder ein Berührungsangebot zu machen, hoben dieses Berührungsangebot hervor, machte es deutlicher und eindeutiger. Weiterlesen

Achtsamkeit

Hier können Sie das PDF herunterladen: Achtsamkeit – Andreas Fröhlich

Während der Arbeit an einem geplanten Handbuch der Basalen Stimulation (Hogrefe Verlag 2017/18, zusammen mit Lars Mohr und Matthias Zündel) kam durch eine Anfrage einer Schweizer Kollegin die Frage nach Achtsamkeit auf. Sie wagte vorsichtige Kritik und bemängelte, dass Achtsamkeit sich selbst gegenüber im Konzept Basale Stimulation zu kurz käme, ja, es würden Anforderungen an basale Arbeitende gestellt, die einer Selbstaufgabe gefährlich nahe kämen. Ich wurde sehr nachdenklich und besann mich dann aber eines Vortrages, den ich für einen geschlossenen Kreis vorbereitet hatte. Dieser Vortrag ist nie veröffentlicht worden. In einer leicht überarbeiteten Form möchte ich ihn hier vorstellen und damit auch eine Diskussion anstossen. Weiterlesen

Andreas Fröhlich Schule

Vorwort

Klepsau im Tal der Jagst – da gab es bis vor wenigen Wochen eine kleine Schule für Kinder mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Seit 2001 trug diese Schule meinen Namen, Andreas Fröhlich-Schule. Ländlich, idyllisch, heimelig, naturverbunden – so könnte man die Situation beschreiben.

Nun ist die Schule umgezogen, in ein Schulzentrum, einen eher funktionell-sachlichen Neubau. Zusammen haben alle Schüler eine ebenfalls neue Mensa, einen angepassten, „barrierefreien“ Schul-Spielplatz / Pausenhof.

Begegnungen sollen möglich werden, gemeinsame Aktivitäten und gemeinsamer Unterricht, eine moderate Form inklusiven Unterrichts ist das Ziel der Veränderungen.

Die Eltern freuen sich, dass ihre Kinder nun zusammen mit allen anderen Kindern in die Schule gehen. Therapeutinnen und LehrerInnen sehen viele neue Aufgaben, die es zu meistern gilt.

Eine Einweihungsfeier fand statt, Bürgersaal, Mensa und Schule im Schulzentzrum von Krautheim an der Jagst ( in dieser kleinen Stadt tat Götz von Berlichingen seinen berühmten Spruch!). Auch jetzt, am neuen Standort in den neuen Gebäuden heisst die Schule Andreas Fröhlich – Schule und ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum für körperliche und motorische Entwicklung, einschliesslich Aussenklassen und Schulkindergarten (SBBZ).

Ein paar Gedanken sollte ich zur Einweihung beisteuern:

Zukunft und Chancen im Zentrum Krautheim

Immer möchten Menschen gerne in die Zukunft schauen, möchten wissen, was da auf sie zukommt, möchten sich vorbereiten, wappnen, schützen oder schon mal auf kommende Erfolge anstossen.
Ja, wenn man nur wüsste, was die Zukunft bringt.

Wir wissen es nicht und auch wissenschaftliche Prognosen sind nur etwas komplexere Wetten auf die Zukunft.
Aber Überlegungen kann man anstellen und Wünsche, die darf man frei formulieren.

Wir haben in den vergangen Jahren seit der Ratifizierung der UN Charta Rechte behinderter Menschen eine beeindruckende Bewegung erlebt, der es gelungen ist, die Lebensumstände vieler Menschen mit Beeinträchtigung in ein anderes, neues Licht zu rücken. Die alltäglichen kleinen und grossen Hindernisse, der heimlich oder offene Ausschluss, die Diskriminierungen – all das wurde vielen jetzt wirklich deutlich bewusst. Im Gesundheitswesen, in der Bildung, beim Bauen, im Beruf wurde „Barrierefreiheit“ ein zentrales Stichwort. Wir erleben derzeit einen deutlichen Wandel, behinderte Menschen werden mitgedacht, sie gehören dazu.

Als vor Jahren eine kleine Schule in Klepsau mich als Namenspaten gewählt hat, habe ich daran eine Bedingung geknüpft.

Niemals, so lautete diese, dürfe eine Kind „wegen der Schwere seiner Behinderung“ nicht aufgenommen werden. Mir liegen diese Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen besonders am Herzen, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie sich selbst kaum mitteilen können, dass sie in nahezu allen Aktivitäten des täglichen Lebens Hilfe und Begleitung brauchen. „Schwerstbehinderte“ Menschen eben. Leider – das muss man deutlich sagen – finden diese Menschen in der UN Charta keine Erwähnung. Schaut man sich alle die Hinweise im Text an, die sich konkret auf Menschen mit Behinderung beziehen, so wird man feststellen, dass an die Gruppe dieser Menschen nicht gedacht worden ist. Ihre Lobbyisten haben offenbar bei der Erstellung der Resolution gefehlt. Wieder einmal.

Und daraus würde ich gerne in Zukunft eine Chance für „meine“ Schule machen. Eine Schule, die versucht, wirklich für alle Kinder Partizipationsmöglichkeiten zu entwicklen. Will man sehr schwer und komplex beeinträchtigten Kindern Partizipationsmöglichkeiten erschliessen, so muss man die schon ein bisschen ausgetretenen Pfade des gemeinsamen Unterrichtes wahrscheinlich verlassen. Dabei sein, wenn andere etwas tun,

etwas hingehalten bekommen, mit dem andere arbeiten, ein farbiges Tuch übergelegt bekommen, das vielleicht für die anderen ein Symbol für etwas ist – das ist noch keine Partizipation.

Schule soll Bildung vermitteln – für alle. Ich beschreibe Bildung gerne als Partizipation am kulturellen Erbe der Menschheit.

Dazu gehört sehr viel, alles, was der Mensch im Laufe seiner vieltausendjährigen Geschichte entwickelt hat, Sprache, Schrift, logisches Denken, aber ebenso die Ausdrucksformen der Zuneigung, das Alphabet der Gefühle, die unterschiedliche Zubereitung des Essens und die Variationen des Geschmacks, die Kleidung, die Hygiene, das Konfliktmanagement im Alltag – all das ist kulturelles Erbe, an dem wir uns beteiligen wollen und sollen. Wir sollen nicht nur Anteil haben, etwas abbekommen davon, sondern wir sollen uns auch beteiligen, also unseren Teil dazu geben. dann erst kann von Partizipation die Rede sein.

Und das muss auch für Kinder, für junge und alte Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen gelten.

Ihre Erfahrung mit Schmerz, ihr Wissen um das Leben in Abhängigkeit, ihre Fähigkeit Stimmungen sensibel zu erspüren, ihre Kompetenz, Gefühlen unmittelbar Ausdruck zu geben – das muss als ein Teil unseres sich ständig weiter entwickelnden kulturellen Erbes wertgeschätzt werden.

Wenn nun die Andreas Fröhlich Schule sich im Schulzentrum Krautheim darauf einlässt, mit anderen Schulformen intensiv zu kooperieren, den Gedanken der Gemeinsamkeit in die Praxis umzusetzen, dann muss auch diese besondere Lebenswirklichkeit ein Teil des Ganzen werden.

KInder sind nicht gleich, es gibt keine wirkliche Homogenität der Schülerinnen und Schüler, ihre Lebensumstände sind verschieden, sehr verschieden oft.

Die Begegnungen mit Kindern aus Familien, die Flucht, Vertreibung, Krieg, Angst, Todesgefahr, Gewalt und Hilfsbereitschaft erfahren haben, zeigt uns deutlich – wenn wir die Augen nicht verschliessen – wie unterschiedlich Kinderleben sein können. Und wie behutsam man daran gehen muss, eine gemeinsame positive Erfahrungswelt für Kinder aufzubauen. Auch für die, denen bislang – und Gott sei Dank – nichts Schlimmes zugestossen ist.

Aber auch sehr schwer behinderte Kinder sind „Überlebende“. Ihre Schwangerschaft, die Geburt, die frühe Zeit danach waren wahrscheinlich extreme Krisenzeiten. Eine Krankheit, ein Unfall, eine genetische Veränderung haben sie an den Rand des Lebens gebracht, sie konnten gerade noch auf die Seite des Lebens gezogen werden. Da gibt es viele nachdenkenswerten Gemeinsamkeiten.

Für mich wäre es ein starker Wunsch, wenn die Kinder aus den wohlbehaltenen Familien, die Kinder, deren Lebensweg als Karriere schon vorgezeichnet scheint, etwas davon partizipieren könnten, was es heisst zu überleben. Wie grossartig es sein kann, einfach am Leben Teil zu haben, mit anderen Kindern zusammen. Das ist nicht zuerst eine Frage der richtigen didaktischen Vorbereitung, das hat auch wenig mit dem passenden Arbeitsmaterial und schon gar nichts mit dem Erreichen des Klassenzieles zu tun. Schule sollte ( manchmal wenigstens) erkennen können, dass sie für die Kinder da ist, dass sie den jungen Menschen einen Platz zum Leben anbieten soll, durchaus auch zum Lernen. Aber bitte nicht zum Lernen von „Stoff“, der seinen Sinn schon verliert, wenn er einmal abgefragt ist.

Durch ein allzu enges Verständnis von Bildung schafft sich das System Schule selbst Schwierigkeiten, produziert gewissermassen die Kinder selbst, die dann als schwierig gelten.

Ich hoffe, dass die Andreas Fröhlich Schule im Schulzentrum Krautheim mit „Gedankenfrische und Offenheit“ einen Beitrag zur Lebenswelt Schule einbringen kann. Zusammen mit „schwierigen“, mit geistig und körperlich beeinträchtigen, in ihrer Wahrnehmung, in ihrer Bewegungsfähigkeit, in ihrem Denken und auch Fühlen sehr unterschiedlichen, ja, manchmal „fremden“ Kindern, kann man auch die Welt anders, differenzierter und bunter sehen.

Das wären doch Chancen und Hoffnungen, oder?

 

 

 

Eine Sprache der Nähe

Eine Sprache der Nähe… genau das wäre es.
(Hanns-Joseph Ortheil, Liebesnähe S.286)
Aspekte einer Begegnung auf der Grenze.

Grenzerfahrungen sind nach Karl Jaspers jene Erfahrungen im Leben eines Menschen, in denen er nicht mehr auf Vorerfahrungen, auf Routinen, auf Gewohntes zurückgreifen kann. Es sind Erfahrungen, die ihm deutlich werden lassen, dass er an die Ränder seines bisherigen Lebens kommt. Solche Grenzerfahrungen sind in der Begegnung mit lebensverkürzend erkrankten Kindern eher die Regel als die Ausnahme. Und zwar im doppelten Sinn, die Kinder selbst geraten an die Grenzen ihrer bisherigen Welt, an die Grenzen ihrer bisherigen Erfahrungen und wohl auch an die Grenzen ihrer Vorstellungen. Aber auch die Familie findet sich in Situationen, in denen sie nicht auf Erfahrung, Wissen, erworbene Kompetenz zurückgreifen können.

Diejenigen, die ehrenamtlich oder beruflich sehr schwer erkrankte Kinder begleiten, haben sich im Lauf ihrer engagierten Arbeit natürlich gewisse Erfahrungen angeeignet. Sie können ganz sicher auf einiges zurückgreifen, was ihnen, den Kindern und ihren Angehörigen hilft, mit der Grenzsituation ein wenig besser zurecht zu kommen.

Ich möchte Möglichkeiten andeuten, mit sehr schwer und mehrfach behinderten Kindern in Kontakt zu kommen und in Kontakt zu bleiben. Diese Kinder sind schon in ihren „gesunden Tagen“ eine spezielle Herausforderung für unsere Kommunikationsfähigkeit. Ihre Mimik, ihre Stimme, vor allem aber ihre meist nicht vorhandene Sprache, werden uns sehr schnell an die Grenzen unserer eigenen Kommunikationsfähigkeit bringen. Wir werden eben schnell hilflos, wenn es uns nicht gelingt, unser Gegenüber anzusprechen oder aber unser Gegenüber zu verstehen. Die Kommunikation bricht zusammen, es kann das Gefühl entstehen, man habe nichts mehr gemeinsam. hier können Sie den Vortrag herunterladen …

 

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Umberto Eco

Nun ist also auch Umberto Eco gestorben. Die Feuilletons werden ihn würdigen, seine wissenschaftlichen Leistungen in der Semiotik, seine Wirksamkeit als europäischer Intellektueller.
Vor allem aber als Schriftsteller, der in Deutschland ein besonders grosses Leserpublikum hatte und hoffentlich noch lange haben wird. Der Autor von „Der Name der Rose“, „Die Insel des vorigen Tages“, „Das Foucaultsche Pendel“ , meines persönlichen Lieblingsbuches „Baudolino“ und vieler kleinerer witziger, intelligenter und kritischer Schriften, hat auch ein Buch verfasst, das nicht in die Bestsellerlisten kam, das aber aus dem Blick der Rehabilitiationswissenschaften einer besonderen Erwähnung würdig ist:

Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, erschienen 2004.

Wie schon in meinen Gedanken an Roger Willemsen angedeutet, handelt es sich bei der Königin Loana um einen fast klassischen Entwicklungsroman, der auf einem fiktionalen Koma mit anschliessender retrograder, fast vollständiger Amnesie, also einem totalen Gedächtnisverlust, basiert.
Der Ich-Erzähler muss sein Leben neu entdecken, er findet sich in einer Umgebung – einem Buchladen – mit ihm unbekannten Menschen wieder, von denen er nicht einmal weiss, in welchem Verhältnis er zu ihnen gestanden hat.
Ist das seine Frau, die da im Laden steht? Ist es nur eine Angestellte? Hat er vielleicht eine Affaire mit ihr? Hat er eine gehabt und ist sie beendet – er weiss es nicht mehr.

Die eigentliche „Geschichte“ besteht darin, dass Eco als Ich-Erzähler uns auf eine literarische Entdeckungsreise in die von ihm über viele Jahre gelesene Literatur mit nimmt. Literatur, die seine Person gebildet und geformt hat, die ihn als Person ausmacht.
Das wird nun für den Leser spannend – oder auch langweilig. Man kann dem Autor nämlich bald nicht mehr folgen, wenn man die Bücher, Zeitschriften und vor allem die vielen Comics, auf die er sich bezieht, nicht kennt. Selbst, wenn man belesen ist, wird es schwierig, denn seine Comic – Lesezeit dürfte ca. 70 Jahre zurück liegen. Wer von uns kennt italienische Comics aus dieser Zeit?

Wie bei Eco nicht anders zu erwarten, ist das alles sprachlich und stilistisch überaus gut gelungen, man kann das Buch allein von da aus mit Vergnügen lesen, wenn man am Lesen über das Lesen Vergnügen hat.
Fast 500 Seiten sind da zu lesen, ein dickes Taschenbuch.
Und am Ende ein Satz, der angesichts seines Todes neue Bedeutung bekommt:

Ich spüre einen kalten Hauch, ich hebe die Augen
Warum wird die Sonne auf einmal so schwarz?

In Erinnerung an Roger Willemsen

kleine lichterBildschirmfoto 2016-02-19 um 22.15.31 In Erinnerung an Roger Willemsen, gestorben im Februar 2016.
Vor etlichen Jahren fiel mir auf, dass damals zunehmend Romane auf den literarischen Markt kamen, die Koma oder Wachkoma zum Thema hatten. Bedeutende Schriftsteller, grosse Romanautoren, aber auch Kriminalroman- Schreiber und weniger begabte Unterhaltungsschriftsteller beteiligten sich an dieser Thematik. War es eine Mode?
Insgesamt gut vierzig Romane las und untersuchte ich, Studierende halfen mir dabei, steuerten ihre eigene, deutliche „jüngere“ Sicht bei.
Ich möchte dieses Thema heute noch einmal aufgreifen, vielleicht irgendwann auch nochmals aktualisieren. Ein Ausschnitt aus dieser nie veröffentlichten Arbeit, die ich bisher nur einmal in Form eines Vortrages vorstellte:
Die herangezogenen Romane befassen sich zentral oder am Rande mit dem Phänomen Koma bzw. Wachkoma. Von den Autoren wird häufig kein Unterschied zwischen den beiden Formen gemacht, man darf vermuten, dass der Unterschied ihnen nicht wirklich bekannt ist oder ihnen vernachlässigbar erschien. Oft genug geht es um ein – fachlich gesehen – fiktionales Koma, dem aber im Roman hohe Bedeutung zukommt. Sprechen wir im weiteren Verlauf vom Motiv Koma bzw. Wachkoma, das sich in bis jetzt etwa 40 Romanen gefunden hat. Dieses literarische Motiv Koma/Wachkoma beeindruckt offensichtlich viele Autoren durch seine Radikalität, durch die Infragestellung der meisten, ansonsten für Menschen als unverzichtbar angenommenen, Eigenschaften eines Menschen. Im Sinne Karl Jaspers handelt es sich bei Koma um eine Grenzsituation, die offensichtlich literarisch sehr reizvoll zu sein scheint. So eine Situation wurde vorher nie erlebt, es gibt kein Beispiel, an den man sich orientieren kann, man betritt absolutes Neuland. Weiterlesen

Was ist ein Kind? Was braucht ein Kind?

Vor drei Jahren schrieb ich erstmals an diesem Text. Ein Enkelkind war gerade auf die Welt gekommen, unter recht dramatischen Umständen. Dem Kind heute geht es gut, es ist gesund und entwickelt sich ganz normal. Und jetzt wieder ein Kind, wieder scheinen wir alle zusammen Glück gehabt zu haben. Was nicht selbstverständlich ist. Wir sind froh.

Dieses Kind wurde von vielen erwartet, vom älteren Geschwisterkind, von den Eltern, den Großeltern, von Tanten und Onkeln, vom Cousin und den Cousinen. Erwartungen entstanden bei allen, stille Hoffnungen und unbenannte Sorgen. Das Kind kommt in eine Familie, die ihm einen Platz zuweist. Drum herum Freunde und Bekannte, Nachbarn, die Hebamme und die Ärztinnen in der Klinik, alle mit einem Bild von diesem Kind.

Diese Bilder werden wirken. Die Erwartungen warten auf Erfüllungen, das Kind ist zum „Zukunftsträger“ der Familie geworden – und so lange es noch sehr klein ist, noch kaum „Individualität“ entwickelt hat, desto leichter lässt es sich mit solchen Erwartungen versehen. Diese sind meist nicht bewusst, sind nicht ausformuliert, stellen keine Forderung dar – aber sie sind da und bestimmen die weitere Entwicklung mit.

Meine Perspektive ist die des Großvaters, eines Großvaters, es gibt ja noch den anderen. Ich bin altersmäßig sehr weit weg von diesem Kind. Innerhalb der engeren Familie stellen wir die beiden Pole dar, zeitlich betrachtet.

Bin ich nun reif, geschickt, mündig, entwickelt, wissend, gebildet – bin ich vielleicht fertig in der doppelten Bedeutung des Wortes? Bin ich ruhig oder verbraucht? Vieles davon ist eine Frage der Perspektive. Ist mein neugeborenes Enkelkind unreif, ungeschickt, unmündig, unentwickelt, unwissend, ungebildet, unfertig, ständig unruhig? Oder doch eher unverbraucht?

Das „un-“ signalisiert, dass man Babys für nicht oder noch nicht ganz entwickelt halten könnte, dass sie eine „Vorform des Eigentlichen“ sind. Mit guten Gründen kann man eine solche Sicht kritisieren, dies wurde auch schon oft getan. Wenn wir heute davon ausgehen, dass Kinder nicht nur eine frühe Minusvariante der Erwachsenen sind, sondern eigenständig und in ihrer jeweiligen Entwicklung so etwas wie perfekt, dann muss das auch für die Pädagogik sehr schwer beeinträchtigter Kinder Konsequenzen haben.

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Schmerzausstellung

DSCF6901Meine Bilderserie Schmerz gehört nun der Stiftung leben-pur in München und wird auch von ihr „verwaltet“. Man kann sie ausleihen, man kann sie zu einer Veranstaltung oder auch zu einer Ausstellung nutzen. Das muss dann mit der Stiftung abgesprochen werden.
An der Gründung dieser Stiftung war ich beteiligt, ich fühle mich ihr sehr verbunden. Menschen mit schwersten Behinderungen sind das gedankliche Zentrum dieser Stiftung. Fortbildungen, Publikationen und spezielle Schulungen werden angeboten, um Menschen mit schwersten Behinderungen ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. (www.stiftung-leben-pur.de)
Schmerz ist häufig ein ständiger Begleiter für diese Menschen, Schmerzvermeidung und Schmerzreduktion sind wichtige Aufgaben einer Palliativen Pädagogik und einer sorgsamen Pflege.
Meine Bilder können Anstoß zum Nachdenken geben…