Vor drei Jahren schrieb ich erstmals an diesem Text. Ein Enkelkind war gerade auf die Welt gekommen, unter recht dramatischen Umständen. Dem Kind heute geht es gut, es ist gesund und entwickelt sich ganz normal. Und jetzt wieder ein Kind, wieder scheinen wir alle zusammen Glück gehabt zu haben. Was nicht selbstverständlich ist. Wir sind froh.
Dieses Kind wurde von vielen erwartet, vom älteren Geschwisterkind, von den Eltern, den Großeltern, von Tanten und Onkeln, vom Cousin und den Cousinen. Erwartungen entstanden bei allen, stille Hoffnungen und unbenannte Sorgen. Das Kind kommt in eine Familie, die ihm einen Platz zuweist. Drum herum Freunde und Bekannte, Nachbarn, die Hebamme und die Ärztinnen in der Klinik, alle mit einem Bild von diesem Kind.
Diese Bilder werden wirken. Die Erwartungen warten auf Erfüllungen, das Kind ist zum „Zukunftsträger“ der Familie geworden – und so lange es noch sehr klein ist, noch kaum „Individualität“ entwickelt hat, desto leichter lässt es sich mit solchen Erwartungen versehen. Diese sind meist nicht bewusst, sind nicht ausformuliert, stellen keine Forderung dar – aber sie sind da und bestimmen die weitere Entwicklung mit.
Meine Perspektive ist die des Großvaters, eines Großvaters, es gibt ja noch den anderen. Ich bin altersmäßig sehr weit weg von diesem Kind. Innerhalb der engeren Familie stellen wir die beiden Pole dar, zeitlich betrachtet.
Bin ich nun reif, geschickt, mündig, entwickelt, wissend, gebildet – bin ich vielleicht fertig in der doppelten Bedeutung des Wortes? Bin ich ruhig oder verbraucht? Vieles davon ist eine Frage der Perspektive. Ist mein neugeborenes Enkelkind unreif, ungeschickt, unmündig, unentwickelt, unwissend, ungebildet, unfertig, ständig unruhig? Oder doch eher unverbraucht?
Das „un-“ signalisiert, dass man Babys für nicht oder noch nicht ganz entwickelt halten könnte, dass sie eine „Vorform des Eigentlichen“ sind. Mit guten Gründen kann man eine solche Sicht kritisieren, dies wurde auch schon oft getan. Wenn wir heute davon ausgehen, dass Kinder nicht nur eine frühe Minusvariante der Erwachsenen sind, sondern eigenständig und in ihrer jeweiligen Entwicklung so etwas wie perfekt, dann muss das auch für die Pädagogik sehr schwer beeinträchtigter Kinder Konsequenzen haben.