Hallo Paul

Hallo, schön, dass Du heute gekommen bist, Paul. Jetzt sitzt Du vor mir, und… nein, sitzen kann man eigentlich nicht sagen, Du liegst ja halb in deiner „Sitzschale“. Aus Kunststoff, gepolstert, mit allerhand Gurten und Halterungen. Alles auf eine Art Rollstuhl  montiert.

Ich sehe deine dünnen Arme und die ebenso dünnen Beine, der Kopf hängt ein bisschen schief und mir scheint, da läuft auch etwas Spucke aus Deinem Mund.

Schaust Du mal her? Nein? Wo schaust Du hin, ist das was, was Dich interessiert? Hörst Du mich eigentlich? Merkst Du, dass ich da bin? Kannst Du etwas sagen? Deuten? Nein?

Was hast Du da an der Nase? Einen Schlauch? Was ist damit? …

Paul wird bei keinem Test mitmachen, er wird keine Fragen beantworten – jedenfalls nicht so,  wie man es von einem sechsjährigen Jungen erwarten darf. Er wird auch keinen Stift halten und keinen Baum malen, er wird keine farbigen Klötzchen sortieren,  nicht mit dem Krokodil und dem kleinen Püppchen spielen.

Er wird ein paar Laute von sich geben, die ich nicht zu deuten weiß, er wird mit den Beinen Bewegungen machen, heftig und unkontrolliert. Und dann schläft er einfach ein und lässt mich alleine mit meinen Fragen an ihn.


Hinführung

Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen sind seit vielen Jahren eine „Herausforderung“ für die Frühförderung, die pädagogischen Förderungen in der Schule und auch für Einrichtungen nach dieser Zeit. Vor allem aber stellen sie Ihre Eltern vor viele Fragen und Probleme.

Es wurden pädagogische, psychologische, therapeutische und andere Herangehensweisen entwickelt, um diesen schwerbeeinträchtigten Kindern, dann auch Jugendlichen und Erwachsenen Entwicklungsmöglichkeiten zu geben (Sensorische Integrationstherapie nach Ayres, Basale Kommunikation nach Mall, Basale Aktivierung nach Fischer und Breitinger, Wahrnehmungsförderung nach Affolter, Basale Stimulation nach Fröhlich). In der Praxis werden sich vor allem Mischungen aus den verschiedenen Konzepten und Ansätzen finden. Die jeweilige Grundausbildung der Professionellen bestimmt ebenso die Auswahl wie die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen.

Aber auch mit einem solchen sehr speziellen fachlichen Konzept steht man einem Kind gegenüber, das einem oft genug fremd und unbegreiflich erscheint. Es dominiert der Eindruck von Krankheit, von Missbildung, von Nicht-Können, von der Unmöglichkeit des kommunikativen Austausches. Es fällt nicht leicht, sich diesem Kind zu nähern und es zu verstehen, man weiß nicht, was in ihm vorgehen mag, was es wahrnimmt, wie es vielleicht doch- auf ganz andere Weise – kommuniziert.

Diese Kinder werden von den meisten pädagogischen Einrichtungen nicht wahrgenommen, ihre Existenz ist den meisten gar nicht bewusst. Man sieht vielleicht einmal ein Bild, bemerkt einen Spendenaufruf – das war‘s dann auch. Es sind an der Gesamtzahl unserer Kinder in Deutschland nicht viele, die Zahl liegt im Promillebereich. Es sind Kinder, deren Würde, deren Bildungsanspruch, deren körperliche genau wie ihre sozialen Förderbedürfnisse eine Antwort verlangen. Kinder, die nach einer schwierigen Schwangerschaft viel zu früh auf die Welt kamen, Kinder, deren Geburt verheerend schief lief, Kinder, die durch genetische Veränderungen fast nicht überleben konnten, Kinder, die durch einen Unfall, durch eine Krankheit aus ihrer ganz normalen Entwicklung heraus gerissen wurden und die nun so leben wie Paul.

Die Frage nach der Diagnositk

Psychologische und pädagogische Diagnostik befassen sich, summarisch formuliert, mit Fragen der Lernfähigkeit, mit der Einordnung individueller Leistungsfähigkeit im Vergleich zu anderen Kinder ihrer Altersgruppe, mit funktionalen Differenzen, in  eher therapeutisch begründeten Einzelfällen mit der individuellen Biografie und ihren Auswirkungen auf das aktuelle Verhalten.

Eine „Diagnose“ wird immer wieder angestrebt, d.h. eine klare, eindeutige Zuordnung zu einer bekannten, möglichst wissenschaftlich definierten Gruppe von Kindern, meist gekennzeichnet durch bestimmte „Auffälligkeiten“, „Funktionsvarianten oder -einschränkungen“. Von Legasthenie bis zu ADHS wurden und werden viele solcher Zuordnungen vorgenommen – und manchmal auch kritisch hinterfragt.

Kinder mit sehr schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen müssen nicht durch ein Screening-Verfahren entdeckt werden. Ihre Behinderung ist unmittelbar sichtbar, ihre „Nonkonformität“ meist vom ersten Tag an unzweifelhaft. Eine „Diagnose“ als Resultat einer Diagnostik ist auch nicht zielführend. Mangels kausaler medizinischer Therapien, mangels unmittelbarer pädagogischer und psychologischer Interventionsmöglichkeiten sagt die „Diagnose“ schwerste Behinderung sehr wenig aus darüber, was gerade dieses Kind braucht, was ihm in seiner individuellen Entwicklung vielleicht nutzt.

Also muss Diagnostik ein anderes Ziel verfolgen (wie dies auch andere Autoren des vorliegenden Buches beschreiben), als eine „Diagnose“ aufzustellen.

Es geht um die Suche nach Wegen, mit diesem einen Kind in Austausch zu treten, es verstehen und ihm Angebote machen zu können. Es geht um die Suche nach dem Dialog – auch ohne Sprache.

Wer weiter lesen will, der muss in das neu erschienene Buch:
Handbuch Inklusive
Diagnostik
schauen. Holger Schäfer und Christel Rittmeyer, 2015 im Beltz-Verlag