Vortrag bei der Jahrestagung der Sozialpdagogischen Fachschule Mosbach 2013
Mit diesem Beitrag werde ich es nicht schaffen, die großen Lösungen aufzuzeigen. Vielmehr möchte ich versuchen, Fragen zu stellen. Fragen, die man sich manchmal nicht traut sie zu fragen. Ist es peinlich, solche Fragen zu stellen? Stellt man sich damit außerhalb der derzeitigen Denkströmungen? Ist es politisch unkorrekt, solche Fragen überhaupt zu denken?
Es sind vielleicht Fragen, auf die man sehr wohl schon eine Antwort hat, die man sich aber wiederum nicht traut, laut zu sagen. Vielleicht sind es sehr persönliche Ansichten, vielleicht sind es solche, die man jemandem anderen gar nicht sagen möchte.
Fragen können helfen, Gedanken zu sortieren und Zusammenhänge zu erkennen. In der Wissenschaft sind zentrale Fragestellungen das A und O der Forschung, denn ohne eine vernünftige Fragestellung lässt sich weder gründlich nachdenken noch lassen sich Experimente aufbauen und Daten sammeln.
Solche Fragen sollen hier gestellt werden. Antworten, gar fertige und endgültige, werde ich wohl kaum anbieten können. Aber es gibt ja andere Vortragende und Schreibende, die aus ihrer Erfahrung, aus ihrem Nachdenken heraus, ganz sicherlich Antworten werden anbieten können.
Die Vervollkommnung des Unverbesserlichen
Der Pädagoge Christoph Wulff formuliert in seiner „Einführung in die Anthropologie der Erziehung“ (2001) (das ist ein Buch in sehr schwerer Sprache) einige außerordentlich interessante Thesen oder Gedanken:
die Vervollkommnung des Unverbesserlichen
Dieser Gedanke bezieht sich auf Pädagogik allgemein, auf pädagogisches Handeln, auf Erziehungs- und Bildungsbemühungen insgesamt: Die Vervollkommnung des Unverbesserlichen. Das heisst dass der Mensch – das eigentliche Ziel aller pädagogischen Bemühungen – letztlich nicht wirklich verbessert werden kann Und dennoch hat sich die Pädagogik seiner Vervollkommnung immer wieder neu verschrieben. „Der Traum von der vollständigen Erziehbarkeit und Bildsamkeit“ (Wulff, S. 17) beschäftigt auch uns alle.Was meint Herr Wulff? Für ihn hat Pädagogik immer etwas von einem Traum, sie träumt von einer Zukunft, in der „alles besser“ ist. Die Pädagogik träumt den Traum von der Veränderbarkeit des Menschen zum Guten, sie träumt den Traum, dass sie berufen ist, diese Veränderung herbeizuführen. Immer entwirft Pädagogik eine Zukunft, sie fordert Zukunft und sie stellt Regeln auf für diese Zukunft. Die Pädagogik tut das gerne umfassend, also alle Lebensbereiche betreffend. Mit der Gegenwart tut sich Pädagogik eher schwer, dort muss sie Tatsachen hinnehmen. Sie muss Genetik, soziale Bedingungen, Politik, Wirtschaft, kulturell wechselnde Einflüsse und vieles andere mehr akzeptieren, die gewissermaßen ihre hehren Ziele oft ins Gegenteil verkehren. Wulff erinnert auch an den Patriarchen der Pädagogik, Amos Comenius und sein berühmtes „Alle Kinder alles lehren“. Auch Comenius träumt eine der großen pädagogischen Träume der abendländischen Geschichte: für alle Kinder alles didaktisch gestalten, ihnen alles beibringen… Schon die Doppelung des Alles zeigt, dass es hier nicht um wirklichkeitsnahe Vorstellung gehen kann, sondern um eine Utopie. Aussagen mit alle oder alles sind der kritischen Logik per se verdächtig, sie können grundsätzlich nie eingelöst werden.
Ich selbst habe in meinem eigenen Berufsleben eine ganze Reihe solcher Traumphasen erlebt, habe selbst Träume geträumt und daran mitgearbeitet. Es gehört zum Wesen der Pädagogik, dass sie immer wieder Utopien entwirft (U-Topos; ist ein griechisches Wort und meint, einen Ort, den es nicht gibt).
, an denen sie sich im weiteren selbst orientiert, an denen sie aber immer wieder scheitert.
Manche meiner Träume sind die Träume meiner Generation von Pädagogen und Pädagoginnen, sozial Engagierten und auch von betroffenen Menschen mit Behinderung. Andere sind Teil-Träume ganzer Gesellschaften, vielleicht sind manche auch sehr individuelle Träume:
SolidarischePartnerschaft (Walter Maria Schubert) Independent living
Normalisierung
Deinstitutionalisierung Selbstbestimmung
Integration
Behindert sein ist schön“- Bewegung Kundenorientierung Inklusion
Diversity Management
(Hinweise zu diesen Bewegungen finden Sie am Ende dieses Beitrages.)
Viele dieser Begriffe und Namen kommen auch Ihnen bekannt vor, lösen Erinnerungen aus. Sie lösen auch Emotionen aus, was zeigt, dass darunter eine Reihe gänzlich unerfüllter Träume sind. Aber es wurde manches in den vergangenen Jahrzehnten erreicht. Also waren es auch realistische Träume, d. h. Träume, die in die Wirklichkeit übertragen werden konnten. Nicht vollständig, aber doch in wichtigen Teilen.
Teilhabe
Es muss gleich gesagt werden: Ich halte dies für ein – sprachlich gesehen – scheußliches Wort. Vor Jahrzehnten, in meiner späten Kindheit, tauchte die „Liege“ auf. Das Ding, um sich darauf zu legen, kein Bett, kein Sofa, eine Liege eben. Die deutsche Sprache erlaubt es, einem Verb am Ende das „n“ abzuschneiden und daraus ein Substantiv zu machen. (Probieren Sie es aus: Reden, lachen, machen…)
Seit dem Jahr 2000 etwa taucht dieses Wort Teilhabe vermehrt auf. Diese Wortkonstruktion ist tatsächlich relativ neu. 2001 bringt der Duden, Wörterbuch der deutschen Sprache, das Wort zum ersten Mal und erklärt es mit: „Anteil haben“. Der Brockhaus, im Jahr 1971, bringt nur den Teilhaber, kennt noch keine Teilhabe. Der Duden, mit seinem Herkunftswörterbuch 1963, spricht von Teilhaben, teilnehmen auch noch von teilhaftig sein, aber auch keine Teilhabe. Interessant ist der ansonsten ziemlich „schwarze“ Pädagoge Joachim Heinrich Campe (1801), der von einem Partizipant spricht und ihn als Theilnehmer, Theilhaber, Theilgenosse ins Deutsche überträgt und von Theilnehmung und Theilnahme spricht, nicht jedoch von Teilhabe.
Und hier beginne ich zu fragen:
Warum wird das französisch-englische Ursprungswort der UN- Charta „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ Participation als Teilhabe übersetzt?
Dieses deutsche Wort ist ein sehr statisches Substantiv; es geht um Haben (Vergleiche Erich Fromm; Haben oder Sein, 2011) Das im Original benutzte Participation ist ein eher aktives Substantiv: Mitreden, Mitdenken, Mitplanen, Mitwünschen, Mitentscheiden, Mitablehnen, Mitverwirklichen, Mitverantworten. Diese Begriffe finden wir in englisch- und französisch- sprachigen Texten dem Wort Partizipation zugeordnet.
Partizipation meint in diesen beiden Sprachen eher so etwas wir bürgerschaftliches Engagement für alle. Es finden sich auch im Internet reichlich Hinweise auf die politisch bürgerschaftliche Komponente des Gedankens Partizipation. Bleibt uns im Deutschen nur die Teilhabe? Ich bekomme meinen Teil ab und darf damit zufrieden sein?
Kann ich nicht auch Teil sein? Teil eines Ganzen? Kann ich nicht auch meinen Teil dazu beitragen, dass dieses Ganze bunt, anregend, aktiv wird?
Im Folgenden möchte ich an drei Beispielen zeigen, wie Teilhabe für Menschen mit einer schweren und komplexen Beeinträchtigung aussehen könnte.
(An dieser Stelle möchte ich deutlich darauf aufmerksam machen, dass ich nicht von Menschen mit erhöhtem oder umfassenden oder allumfassenden Hilfebedarf spreche. Nein, ich bleibe dabei, diese Menschen, von denen hier die Rede ist, sie sind sehr schwer behindert, auf der funktionellen Ebene. Auf der Ebene ihrer Aktivitäten und leider auch auf der Ebene der Partizipation.)
Teilhabe an der Selbstpflege
Sich selbst zu versorgen, sich zu waschen, anzuziehen, auf die Toilette zu gehen; gehört zu den Grundbedingungen eines unabhängigen Lebens. Es sind Aktivitäten, die uns täglich, täglich mehrmals, beschäftigen – wo wir Zeit investieren müssen, die einfach zum Leben mit dazu gehören. Menschen mit sehr schweren Behinderungen sind auch in diesem Bereich in hohem Maße abhängig von anderen Menschen, von deren Entscheidungen, von deren Wünschen und Vorstellungen und auch von deren Realisierungsmöglichkeiten. Schon Martin Hahn hat vor vielen Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, dass die Gefahr der Fremdbestimmung mit dem Grad der physischen Abhängigkeit wächst und dass Menschen mit sehr schweren Behinderungen kaum eine Chance haben, wirklich eigene Wünsche aktiv umzusetzen (Hahn; 1981). Ein beliebtes Beispiel aus unserer Alltagsarbeit ist die Wahl des T-Shirts morgens beim Anziehen. Nicht einfach eines aus dem Schrank holen und dem behinderten Menschen überstreifen sondern zumindest zwei herausholen und irgendwie versuchen, eine Wahlmöglichkeit anzubieten. Einst war dies ein großer Schritt im Denken – heute sollte es eigentlich selbstverständlich sein, und doch …..
Aber mir geht es hier nicht so sehr um das T-Shirt sondern ich möchte das etwas komplexere Zusammenspiel bei der täglichen Mundpflege beleuchten.
Überlegen Sie einmal, liebe Zuhörer/innen, liebe Leser/innen, wann Sie sich morgens die Zähne putzen? Gleich nach dem Aufstehen, vor allem anderen; schlucken Sie erst ein paar Medikamente, weil es sein muss? Oder putzen Sie die Zähne lieber nach dem Frühstück? Tun Sie dies dann angezogen oder noch provisorisch? Ich kenne Leute, die putzen sich die Zähne in der Dusche, unter laufendem Wasser. Manche gurgeln ausgiebig. Wie sieht es mit der Temperatur des Wassers aus? Ja, und vor allem: Welche Zahnpasta benutzen Sie? Kommt da noch ein Mundwasser dazu? Und so ließen sich viele Fragen stellen. Schrubben Sie wie wild und rütteln Sie damit ihren ganzen Kopf, benutzen Sie eine elektrische Zahnbürste und lassen es sanft angehen? Ist die Zahnbürste hart oder weich? Und dann noch Zahnseide dazu?
Wie irritiert, wie gestört, wie verärgert sind Sie, wenn es einmal anders läuft als seinen ganz gewohnten, festgelegten Gang, den Sie ja – fast noch vom Schlaf besinnungslos – ablaufen lassen können?
Und nun macht Irgendjemand, vielleicht eine Aushilfe, die Sie und Ihre Gewohnheiten nicht kennt, in ihrem Mund herum, kennt nicht ihren Rhythmus, kennt nicht ihr Tempo, kennt nicht ihre Intensität und all das andere auch nicht.
Sie haben Anteil an einem Reinigungsprozess. Aber in Wirklichkeit sind Sie Objekt dieses Reinigungsprozesses. Sie haben beim Zähne putzen Ihren Teil nicht dazu geben können.
Wir Professionellen müssten also inne halten, genau hinschauen (und dann auch dokumentieren), bei welchem Rhythmus, bei welcher Form der Bewegung das Kind (oder der junge Mann oder auch die alte Dame), sich einigermaßen entspannen kann. Wie lange es dauern muss und wie lange es dauern darf, dass diese Bewegung, dass diese Anregung im Mund auch wirklich gespürt und geschätzt wird. Wie kann man „gemeinsam den Mund ausspülen“ gestalten? So dass es nicht zum Verschlucken, nicht zur Aspiration kommt, aber dass auch tatsächlich ausgespült wird und nicht der halbe Vormittag mit Zahnpasta im Mund verbracht wird?
Das ist nicht einfach nur eine Frage fachkompetenter Pflege im technischen Sinne, sondern hier kommt es darauf an, einem sehr schwer behinderten Menschen die Möglichkeit zu geben, seine Wünsche, seine Bedürfnisse, seine Befindlichkeiten in die Planung einer gemeinsamen Aktivität mit einzubringen.
Und darüber zu entscheiden, in welcher Form diese Aktivität durchgeführt wird.
Teilhabe an der Alltagsgestaltung
„Das Leben ist kein Ponyhof“, lese ich in letzter Zeit häufiger auf T-Shirts. Ich verstehe diesen Satz zwar nicht ganz, reime mir aber zusammen, er will mir mitteilen, dass das Leben nicht immer ganz so ist, wie man es sich wünscht. Der graue Alltag hat seine eigenen Gesetze, soll mir wohl mitgeteilt werden, „alle Tage ist kein Sonntag“, so hiess es schon früher. Nichts Neues also. Pädagogen und ähnliche Berufsgruppen lieben den Alltag aber gar nicht, will mir scheinen. Sie planen das Exemplarische, das besondere Ereignis, den didaktischen Höhepunkt, das intensive Erlebnis, den Event. In der Schule sind es die Einführungsstunden und nicht die Übungsstunden, sozialpädagogisch ist es der Ausflug und nicht der Hausflur. Aber eigentlich ist es doch der Alltag, der unser Leben bestimmt.
Alltage sehen bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich aus. Natürlich sind auch nicht alle Tage gleich, manche sind grau, andere blau oder rosa…
In Wien gibt es eine Organisation „Habit“, die sich um Wohnen und Arbeiten sehr schwer mehrfach behinderter Menschen Gedanken macht und einiges davon bereits in die Tat umgesetzt hat. Hervorgegangen ist diese Gruppe aus den „Wiener Basalen Klassen“, einem Kooperationsprojekt des Stadtschulrates Wien und der Sozialdienste Wien. Sie machen sich intensiv Gedanken um den Alltag:
Alltag hat etwas Routinemäßiges, etwas Gleichmäßiges eben etwas, das jeden Tag passiert und damit auch vorhersehbar und verlässlich ist. Dies gibt Sicherheit und Orientierung. Man hat im Lauf der Zeit die Möglichkeit, seinen Platz zu finden und wiederzuerkennen. Sehr schwer behinderte Menschen benötigen oft viel Zeit, viele wiederkehrende Wiederholungen, bis sie die
Sicherheit des Wiedererkennens gewinnen. Allzu oft sind sie in die Planungen des Alltags, in die Vorhaben, in die Möglichkeiten eines jeden einzelnen Tages überhaupt nicht einbezogen. Sie werden mitgenommen, überrascht, platziert, hingestellt, sie bekommen Therapie, werden aktiviert und schlimmstenfalls auch „bespaßt“. Wir wissen es selbst, die einen sind aktiv und die anderen sind die Objekte dieser Aktivitäten. Teilhabe oder gar Partizipation im geschriebenen Sinne ist dies alles bestimmt nicht.
Was hat Habit nun getan? Es geht dort um den nachvollziehbaren Alltag. Der Alltag vom Aufstehen bis zur abendlichen Ruhe soll etwas werden, was wiedererkennbar, durchschaubar, abschätzbar, und damit Normal-Alltag wird:
Es soll nicht etwas mit mir passieren, sondern ich möchte gestaltend in diesem Alltag aktiv sein können. Teil haben, Teil sein, meinen Teil dazu geben!
An dieser Stelle ein Video: Eine junge Frau, die ihre Arbeit selbst bei einer großen internationalen Tagung vorgestellt hat. Ihre Arbeit besteht darin, zusammen mit einer anderen jungen Frau, die ihre „Betreuerin“ ist, auf den nahe gelegenen Markt zu gehen und dort einzukaufen, damit innerhalb der Gruppe etwas zum Mittagessen bereitet werden kann. Die beiden gehen/fahren zum Markt und schauen sich um, bleiben an einzelnen Ständen stehen und tun das, was andere Marktbesucher auch machen: Sie schauen fragend zum Standbetreiber, dürfen sich dann eine Frucht nehmen, sie befühlen, beklopfen, sie riechen und auch hineinbeißen. Menschen mit einer Wahrnehmungseinschränkung, mit kognitiven Einschränkungen brauchen ein bisschen mehr davon; sie müssen länger fühlen, sie müssen intensiver riechen, sie müssen das Gemüse oder Obst ein wenig länger in den Händen halten, vielleicht müssen sie auch bei diesen Aktivitäten noch weiter unterstützt werden. Aber sie tun das, wie andere auch und vor allem können sie signalisieren, ob ihnen dies schmeckt, interessant vorkommt oder nicht. Die Beiden ziehen weiter, bleiben woanders stehen. An einem Stand, wo man sie schon kennt, wird ein bisschen erzählt, man lacht, nimmt noch etwas mit, was man vielleicht so gar nicht wirklich braucht. So werden die zwei Frauen Teil des Marktes. Teil derer, die an diesem Morgen auf den Markt gehen. Die junge Frau im Rollstuhl hat ihre Identität, sie wird wiedererkannt, man weiß, wie sie sich verhält und was sie mag, man erkennt die Beiden als lustige junge Frauen, mit denen man gerne in Kontakt kommt. Und zuhause angekommen gibt sie ihren Teil zum Alltag dazu. Nämlich das, was sie eingekauft hat, was sie ausgewählt hat und vielleicht auch etwas von der strahlenden Frische, die sie vom Markt ganz persönlich mitbringt.
„Schaut mal, was ich Euch mitgebracht habe…“
Teilhabe am kulturellen Erbe
Zwei meiner ehemaligen, meiner fast allerersten Schüler machen Musik. Thomas und Oliver waren kleine Jungs, die damals als sehr schwer körperbehinderte, nicht sprechende Kinder, auch für geistig behindert gehalten wurden. Die unterstützte Kommunikation war noch in allerersten Anfängen (Fröhlich, 1979) und digitale Möglichkeiten zur Kommunkationsunterstützung gab es nicht. Die Beiden waren vielleicht auch keine heimlichen Genies sondern ganz normale Jungs mit einem schweren Handicap. Dass sie damals die Schule überhaupt besuchen konnten, war schon etwas Besonderes. An anderer Stelle wären sie wahrscheinlich als Dauerpflegefall im Bett liegen geblieben…
Jetzt sind sie über vierzig und spielen in einer Band. Nein, es sind keine Wunder geschehen, da spielt nicht der Eine virtuos Keyboard und der Andere Schlagzeug. Sie sind immer noch sehr schwer und komplex beeinträchtigt sie brauchen ganz viel Hilfe, so können zum Beispiel nicht alleine essen und die Sache mit der digitalen Kommunikation, also den Computern haben sie auch nicht wirklich erfasst. Aber sie tragen etwas zur Kultur der Region bei. Diese Band macht eine ziemlich weiche, einschmeichelnde, ja eigentlich einfache Musik. Aber viele Menschen mögen das, kommen zu den Konzerten und erfreuen sich auch wirklich daran, dass da Menschen mitspielen, die man sonst in einer Musikgruppe nicht vermuten würde. Ihre Anwesenheit hat auch die Texte geprägt. Da wird auch über Zerbrechliches und Unvollkommenes gesungen. Die Beiden nutzen ihre sehr eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, um Klänge zu erzeugen, die sich in den Gesamtsound einfügen. Sie üben mit, sie bereiten vor, sie sind dabei, sie gestalten mit.
Partizipation am kulturellen Erbe mag ein wenig vollmundig klingen – in diesem Zusammenhang. Aber in unserer Gegend wird sehr viel Musik gemacht. Es gibt eine lange Tradition der Wandermusikanten und Musik wird sehr geschätzt, es muss nicht die der ganz großen Konzertsäle sein. Insofern sind die Beiden eingereiht in eine lange Tradition der Region, sie machen mit in kulturellen Projekten und sie geben ihren Teil.
Und der kann fraglos und ohne jede Peinlichkeit angenommen werden.
Seinen Teil dazu geben dürfen, scheint mir ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Teil-Aspekt der Frage Teilhabe zu sein.
UN-Konvention Artikel 3
Wichtiger als der in Deutschland vorrangig thematisierte § 24 scheint mir Artikel 3:
„… Die Achtung …. seiner (des Menschen mit Behinderung )individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seine Unabhängigkeit.“
„Die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit.“
Die Achtung bedeutet Respekt vor der Einmaligkeit eines Menschen, diese Achtung bedeutet auch eine Warnung vor therapeutischen, erzieherischen, medikamentösen Eingriffen in die Persönlichkeit dieses Menschen.
Das scheint mir wesentlich mehr als Teilhabe im engen deutschen Sinne zu sein.
Die im zweiten Absatz formulierte Akzeptanz der menschlichen Vielfalt stößt bekanntlich sehr schnell an historische, psychologische und gesellschaftliche Grenzen.
Wir sollten für einen kurzen Moment den Blick heben und uns gewissermaßen umschauen, über unser eigenes Berufsfeld hinaus und wir werden sehr schnell erkennen, wie eng die Grenzen unserer eigenen Akzeptanz gegenüber menschlicher Vielfalt tatsächlich sind: Gegenüber streng religiösen Menschen, gegenüber Menschen mit anderen Essgewohnheiten, gegenüber Menschen anderer Kulturtraditionen, gegenüber Menschen, die andere Bücher lesen oder gar keine, gegenüber Menschen, die die falschen Kleider tragen oder seltsame Musik hören. Kurzum, immer gegenüber Menschen, die einfach nicht so sind wie wir…..
Gegen die Monotonie des sozialpädagogischen Weltbildes
Am Ende dieser Überlegung möchte ich noch einmal mit Leidenschaft dafür hinweisen, die eigene Welt nicht für „die Welt“ zu halten. In unserem heilpädagogisch sozialen Berufsfeld dominieren bestimmte Wertvorstellungen, bestimmte Lebensentwürfe und symmetrisch dazu bestimmte Ablehnungen. Den meisten ist dies nur gelegentlich bewusst, manchen nie.
Unsere Tagesabläufe sind in ähnlicher Weise organisiert. Was eine wertvolle Beschäftigung ist, darüber besteht im Großen und Ganzen Konsens. Selbst die Art der Kleidung hat eine gewisse Uniformität und die Ernährungsüberzeugungen ähneln sich. Arbeit hat unhinterfragt einen außerordentlich großen Stellenwert, der Mensch findet seinen Sinn in Arbeit und dies soll auch, so unsere pädagogischen Überzeugung, für Menschen mit sehr schwerer Behinderung gelten. Meist herrscht ganz selbstverständlich ein „Diktat der Gruppe“. Möglichst alles soll gemeinsam getan und erlebt werden und das soll dann auch noch erfreulich sein. Einzelgängertum, Zurückgezogenheit, individuelle Sichtweisen gelten als wenig erwünscht.
Mir scheint, der heilpädagogische Durchschnitt droht ständig; ein Durchschnitt, der die Extreme kappt; alle Menschen auf Ihr Mittelmaß zurückführt; sie dadurch immer verwechselbarer und austauschbarer macht. Im neuen Fachjargon heißt dies nun „Mainstreaming“ – Besser wird es dadurch nicht.
Privacy, das Recht in Ruhe gelassen zu werden, dieses Recht möchten Pädagogen in der Regel nicht allzu sehr berücksichtigen.
Pädagogik will ja nicht in Ruhe lassen, sondern anregen, begleiten, führen, stimulieren, beraten, lehren, anleiten, zurückhalten, korrigieren – kurzum etwas mit den Menschen machen, etwas aus den Menschen machen – als wäre sie ohne uns nicht schon Menschen.
Angesichts der Frage um die Teilhabe möchte ich gerne in Erinnerung rufen: Alle Menschen sind nicht gleich, überhaupt keine Menschen sind gleich. Sie brauchen nicht das Gleiche, sie wollen nicht das Gleiche und sie können nicht das Gleiche.
Bedürfnisse, Wünsche, Fähigkeiten von Menschen sind unterschiedlich, das heisst, jeder mensch hat andere Wünsche Dem widerspricht nicht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber dieses „gleich“ ist ein anderes „gleich“.
Wenn also die Menschen nicht gleich sind, sondern verschieden, dann sollten wir in unseren Berufen auch nicht nach Einheitslösungen suchen, nach Einrichtungen, nach Unterrichtsformen, nach Therapien und Interventionen, die man in gleicher Weise für alle einsetzen und anwenden könnte. Denken Sie an die Gefahren des pädagogischen Traums :“alle alles“. Diese Träume haben die Tendenz totalitär zu werden, d.h. total, ganz umfassend für jeden Bereich gültig sein zu wollen.
So können schöne Träume zu Albträumen werden.
Andreas Fröhlich
(Sonja Abend danke ich für die kollegialen Hinweise zur „leichten Sprache)