Kathrin wird Friseur

Gedanken zu inklusiven Lebensentwürfen von schwer behinderten Menschen

(Vortrag bei der Jahrestagung der Schulleiter deutschsprachiger HEP- Schulen,
Bamberg 2012)

Die Menschen, von denen hier die Rede sein soll, sind Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Es sind Menschen, die andere Menschen brauchen, bei allem, was Menschen so tun: bei der Bewegung, zur Fortbewegung, beim Essen und Trinken, Waschen und Abtrocknen, zur Verständigung, zur Unterhaltung, zur Sicherung der Gesundheit, zur Finanzierung des Lebens, zum Schutz, zur Anregung, zum An- und Ausziehen, zum Zusammensein oder zum Alleinsein, zum TV-an- oder abschalten; sie brauchen sie physisch, ganz direkt…

Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen sind dadurch ständig in Gefahr, Objekte des Handelns anderer zu werden. Tag für Tag.
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Ausstellung zum 40. der ersten Frühreha-Einrichtung

Schmerz

Zwanzig Blätter (ca. 50 x 70) zum Thema Schmerz habe ich 2012 zum 40. Geburtstag des Hegau-Jugendwerkes, der ersten Frühreha – Einrichtung für Kinder und Jugendliche in Deutschland gemacht.

 Auf schwerstem, handgeschöpftem Büttenpapier (eigentlich ist es schon Karton) habe ich versucht, verschiedenen Schmerzempfindungen Ausdruck zu geben. Nicht psychisches Leid sondern physischer Schmerz in seiner Vielfalt wird thematisiert.

Ich bediente mich auf der Papiergrundlage unterschiedlicher Techniken: Einprägungen, Ritzungen, Schnitte, aber auch  farbige Tinten und Feuer kamen zu Einsatz.

Die Blätter ungegenständlich, es werden also keine Schmerzereignisse abgebildet. Es sind wirklich keine angenehmen Bilder – aber eindrucksvolle, wie die Besucher bestätigten.

„Hier findet jeder seinen Schmerz“ sagte mir eine Besucherin.

 

 

 

 

Im Jahr zuvor hatte ich mich füreinige Tagungen mit dem Thema „Schmerz und schwerste Behinderung“ befasst, viel gelesen und dann geschrieben. Aber ich war noch nicht fertig mit dem, was Schmerz wirklich sein kann. Daher ging ich daran, auf einem anderen Weg die wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen.

Diese Blätter können als Ganzes für Ausstellungen (im Rahmen einer Tagung, in einer Schmerzklinik…) ausgeliehen werden.

 

Veröffentlicht unter Kunst

Was ist ein gutes Leben

Was ist ein gutes Leben?
Gedanken aus pädagogischer Sicht von Andreas Fröhlich. (Abschlussvortrag beim Kongress des SZH, Aug. 2013, Bern)

Es ist ganz einfach vermessen, zu der Frage „Was ist ein gutes Leben?“, noch etwas Bedeutungsvolles hinzufügen zu wollen. Seit Menschen über sich nachdenken, seit Religionen Wert- und Zielvorstellungen formulieren, wird die Frage nach dem „guten Leben“ immer wieder gestellt, sie ist tausendfach beantwortet, wozu also dann noch ein solcher pädagogischer Nachschlag?

Solche menschlichen „Dauerthemen“ haben es in sich! Sie fordern offensichtlich jede Generation aufs Neue heraus. Die bisher gegebenen Antworten genügen nicht mehr, es wird nach neuen gesucht. Häufig genug stößt man dabei auf noch ältere, jetzt wieder in neuem Gewand, eine Zeitlang können sie befriedigen, bis auch dann wieder gefragt wird: „Was ist ein gutes Leben?“ Für die Pädagogik selbst ist es eine zentrale Frage des eigenen Selbstverständnisses. Worauf sollte Pädagogik kleinen und größeren Menschen denn vorbereiten, wenn nicht auf ein gutes Leben? Aber ohne zu wissen, was man sich unter diesem guten Leben vorstellen könnte, ist eine zielgerichtete Arbeit wohl nicht möglich. Pädagogik, so sei hier ganz einfach erklärt, darf sich sehr wohl mit dieser umfassenden Frage beschäftigen, muss nicht ausschließlich auf Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften, Politik und andere hinschauen. Nein, sie darf diese Frage aus sich heraus stellen und wie andere auch, zu beantworten versuchen.

Die angesprochene Vermessenheit liegt darin, dass es einfach unmöglich ist, die Fülle der zu dieser Frage bereits geschriebenen Literatur auch nur zu benennen, geschweige denn, zu überblicken und durchdrungen zu haben. Insofern können im Folgenden nur Fragmente, kleinere Aspekte unter einem ganz spezifischen Blickwinkel betrachtet werden.

Was ist denn nun ein gutes Leben?

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und danach auch in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, taucht ein historisch sehr wichtiger Begriff auf: „The pursuit of Happiness“, einfach übersetzt: Das Streben nach Glück. Dort wird nun behauptet, dass der Schöpfer den Menschen unveränderliche Rechte mitgegeben hat; nämlich ein Recht auf Leben, ein Recht auf Freiheit und eben das Recht, nach Glück zu streben. Es geht nicht um ein Recht auf Glück sondern darum, das Glück zu suchen. Dies ist, gegenüber der Jenseits-Überzeugung der alten Welt ein gewaltiger emanzipatorischer Schritt. Nicht erst nach dem Tod, im Paradies darf der Mensch Glück erwarten sondern schon hier in dieser Welt. Er darf es erwarten, es ist sein gutes Recht, sich darum zu mühen, aber niemand kann ihm garantieren, dass er dieses Glück auch findet.

Heinrich von Navarra, als späterer Henri IV, König von Frankreich, denkt ganz anders an ein gutes Leben für seine Untertanen: wenn Gott es ihm erlaubt, möchte er in seinem Königreich dafür sorgen, dass jeder am Sonntag ein Huhn in seinem Kochtopf hat. Ein bescheidenes Glück, würden wir heute sagen, aber immerhin ein ganz konkret beschriebenes Glück.

Was heißt es nun, gut leben oder gar „Gut leben in der Schweiz?“ Könnten wir – außerhalb der Schweiz – eine Befragung durchführen, so wäre wohl zu erwarten, dass eine Mehrheit davon ausgeht, dass man in der Schweiz gut leben kann bzw. dass die Schweizer in ihrem Land gut leben.

Teil haben? Teil sein? Seinen Teil dazu geben!

Vortrag bei der Jahrestagung der Sozialpdagogischen Fachschule Mosbach 2013

Mit diesem Beitrag werde ich es nicht schaffen, die großen Lösungen aufzuzeigen. Vielmehr möchte ich versuchen, Fragen zu stellen. Fragen, die man sich manchmal nicht traut sie zu fragen. Ist es peinlich, solche Fragen zu stellen? Stellt man sich damit außerhalb der derzeitigen Denkströmungen? Ist es politisch unkorrekt, solche Fragen überhaupt zu denken?
Es sind vielleicht Fragen, auf die man sehr wohl schon eine Antwort hat, die man sich aber wiederum nicht traut, laut zu sagen. Vielleicht sind es sehr persönliche Ansichten, vielleicht sind es solche, die man jemandem anderen gar nicht sagen möchte.
Fragen können helfen, Gedanken zu sortieren und Zusammenhänge zu erkennen. In der Wissenschaft sind zentrale Fragestellungen das A und O der Forschung, denn ohne eine vernünftige Fragestellung lässt sich weder gründlich nachdenken noch lassen sich Experimente aufbauen und Daten sammeln.
Solche Fragen sollen hier gestellt werden. Antworten, gar fertige und endgültige, werde ich wohl kaum anbieten können. Aber es gibt ja andere Vortragende und Schreibende, die aus ihrer Erfahrung, aus ihrem Nachdenken heraus, ganz sicherlich Antworten werden anbieten können.

Die Vervollkommnung des Unverbesserlichen
Der Pädagoge Christoph Wulff formuliert in seiner „Einführung in die Anthropologie der Erziehung“ (2001) (das ist ein Buch in sehr schwerer Sprache) einige außerordentlich interessante Thesen oder Gedanken:
die Vervollkommnung des Unverbesserlichen
Dieser Gedanke bezieht sich auf Pädagogik allgemein, auf pädagogisches Handeln, auf Erziehungs- und Bildungsbemühungen insgesamt: Die Vervollkommnung des Unverbesserlichen. Das heisst dass der Mensch – das eigentliche Ziel aller pädagogischen Bemühungen – letztlich nicht wirklich verbessert werden kann Und dennoch hat sich die Pädagogik seiner Vervollkommnung immer wieder neu verschrieben. „Der Traum von der vollständigen Erziehbarkeit und Bildsamkeit“ (Wulff, S. 17) beschäftigt auch uns alle.Was meint Herr Wulff? Für ihn hat Pädagogik immer etwas von einem Traum, sie träumt von einer Zukunft, in der „alles besser“ ist. Die Pädagogik träumt den Traum von der Veränderbarkeit des Menschen zum Guten, sie träumt den Traum, dass sie berufen ist, diese Veränderung herbeizuführen. Immer entwirft Pädagogik eine Zukunft, sie fordert Zukunft und sie stellt Regeln auf für diese Zukunft. Die Pädagogik tut das gerne umfassend, also alle Lebensbereiche betreffend. Mit der Gegenwart tut sich Pädagogik eher schwer, dort muss sie Tatsachen hinnehmen. Sie muss Genetik, soziale Bedingungen, Politik, Wirtschaft, kulturell wechselnde Einflüsse und vieles andere mehr akzeptieren, die gewissermaßen ihre hehren Ziele oft ins Gegenteil verkehren. Wulff erinnert auch an den Patriarchen der Pädagogik, Amos Comenius und sein berühmtes „Alle Kinder alles lehren“. Auch Comenius träumt eine der großen pädagogischen Träume der abendländischen Geschichte: für alle Kinder alles didaktisch gestalten, ihnen alles beibringen… Schon die Doppelung des Alles zeigt, dass es hier nicht um wirklichkeitsnahe Vorstellung gehen kann, sondern um eine Utopie. Aussagen mit alle oder alles sind der kritischen Logik per se verdächtig, sie können grundsätzlich nie eingelöst werden.
Ich selbst habe in meinem eigenen Berufsleben eine ganze Reihe solcher Traumphasen erlebt, habe selbst Träume geträumt und daran mitgearbeitet. Es gehört zum Wesen der Pädagogik, dass sie immer wieder Utopien entwirft (U-Topos; ist ein griechisches Wort und meint, einen Ort, den es nicht gibt).
, an denen sie sich im weiteren selbst orientiert, an denen sie aber immer wieder scheitert.
Manche meiner Träume sind die Träume meiner Generation von Pädagogen und Pädagoginnen, sozial Engagierten und auch von betroffenen Menschen mit Behinderung. Andere sind Teil-Träume ganzer Gesellschaften, vielleicht sind manche auch sehr individuelle Träume:
SolidarischePartnerschaft (Walter Maria Schubert) Independent living
Normalisierung
Deinstitutionalisierung Selbstbestimmung
Integration
Behindert sein ist schön“- Bewegung Kundenorientierung Inklusion
Diversity Management
(Hinweise zu diesen Bewegungen finden Sie am Ende dieses Beitrages.)
Viele dieser Begriffe und Namen kommen auch Ihnen bekannt vor, lösen Erinnerungen aus. Sie lösen auch Emotionen aus, was zeigt, dass darunter eine Reihe gänzlich unerfüllter Träume sind. Aber es wurde manches in den vergangenen Jahrzehnten erreicht. Also waren es auch realistische Träume, d. h. Träume, die in die Wirklichkeit übertragen werden konnten. Nicht vollständig, aber doch in wichtigen Teilen.

Teilhabe
Es muss gleich gesagt werden: Ich halte dies für ein – sprachlich gesehen – scheußliches Wort. Vor Jahrzehnten, in meiner späten Kindheit, tauchte die „Liege“ auf. Das Ding, um sich darauf zu legen, kein Bett, kein Sofa, eine Liege eben. Die deutsche Sprache erlaubt es, einem Verb am Ende das „n“ abzuschneiden und daraus ein Substantiv zu machen. (Probieren Sie es aus: Reden, lachen, machen…)
Seit dem Jahr 2000 etwa taucht dieses Wort Teilhabe vermehrt auf. Diese Wortkonstruktion ist tatsächlich relativ neu. 2001 bringt der Duden, Wörterbuch der deutschen Sprache, das Wort zum ersten Mal und erklärt es mit: „Anteil haben“. Der Brockhaus, im Jahr 1971, bringt nur den Teilhaber, kennt noch keine Teilhabe. Der Duden, mit seinem Herkunftswörterbuch 1963, spricht von Teilhaben, teilnehmen auch noch von teilhaftig sein, aber auch keine Teilhabe. Interessant ist der ansonsten ziemlich „schwarze“ Pädagoge Joachim Heinrich Campe (1801), der von einem Partizipant spricht und ihn als Theilnehmer, Theilhaber, Theilgenosse ins Deutsche überträgt und von Theilnehmung und Theilnahme spricht, nicht jedoch von Teilhabe.
Und hier beginne ich zu fragen:
Warum wird das französisch-englische Ursprungswort der UN- Charta „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ Participation als Teilhabe übersetzt?
Dieses deutsche Wort ist ein sehr statisches Substantiv; es geht um Haben (Vergleiche Erich Fromm; Haben oder Sein, 2011) Das im Original benutzte Participation ist ein eher aktives Substantiv: Mitreden, Mitdenken, Mitplanen, Mitwünschen, Mitentscheiden, Mitablehnen, Mitverwirklichen, Mitverantworten. Diese Begriffe finden wir in englisch- und französisch- sprachigen Texten dem Wort Partizipation zugeordnet.
Partizipation meint in diesen beiden Sprachen eher so etwas wir bürgerschaftliches Engagement für alle. Es finden sich auch im Internet reichlich Hinweise auf die politisch bürgerschaftliche Komponente des Gedankens Partizipation. Bleibt uns im Deutschen nur die Teilhabe? Ich bekomme meinen Teil ab und darf damit zufrieden sein?
Kann ich nicht auch Teil sein? Teil eines Ganzen? Kann ich nicht auch meinen Teil dazu beitragen, dass dieses Ganze bunt, anregend, aktiv wird?
Im Folgenden möchte ich an drei Beispielen zeigen, wie Teilhabe für Menschen mit einer schweren und komplexen Beeinträchtigung aussehen könnte.
(An dieser Stelle möchte ich deutlich darauf aufmerksam machen, dass ich nicht von Menschen mit erhöhtem oder umfassenden oder allumfassenden Hilfebedarf spreche. Nein, ich bleibe dabei, diese Menschen, von denen hier die Rede ist, sie sind sehr schwer behindert, auf der funktionellen Ebene. Auf der Ebene ihrer Aktivitäten und leider auch auf der Ebene der Partizipation.)

Teilhabe an der Selbstpflege
Sich selbst zu versorgen, sich zu waschen, anzuziehen, auf die Toilette zu gehen; gehört zu den Grundbedingungen eines unabhängigen Lebens. Es sind Aktivitäten, die uns täglich, täglich mehrmals, beschäftigen – wo wir Zeit investieren müssen, die einfach zum Leben mit dazu gehören. Menschen mit sehr schweren Behinderungen sind auch in diesem Bereich in hohem Maße abhängig von anderen Menschen, von deren Entscheidungen, von deren Wünschen und Vorstellungen und auch von deren Realisierungsmöglichkeiten. Schon Martin Hahn hat vor vielen Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, dass die Gefahr der Fremdbestimmung mit dem Grad der physischen Abhängigkeit wächst und dass Menschen mit sehr schweren Behinderungen kaum eine Chance haben, wirklich eigene Wünsche aktiv umzusetzen (Hahn; 1981). Ein beliebtes Beispiel aus unserer Alltagsarbeit ist die Wahl des T-Shirts morgens beim Anziehen. Nicht einfach eines aus dem Schrank holen und dem behinderten Menschen überstreifen sondern zumindest zwei herausholen und irgendwie versuchen, eine Wahlmöglichkeit anzubieten. Einst war dies ein großer Schritt im Denken – heute sollte es eigentlich selbstverständlich sein, und doch …..
Aber mir geht es hier nicht so sehr um das T-Shirt sondern ich möchte das etwas komplexere Zusammenspiel bei der täglichen Mundpflege beleuchten.
Überlegen Sie einmal, liebe Zuhörer/innen, liebe Leser/innen, wann Sie sich morgens die Zähne putzen? Gleich nach dem Aufstehen, vor allem anderen; schlucken Sie erst ein paar Medikamente, weil es sein muss? Oder putzen Sie die Zähne lieber nach dem Frühstück? Tun Sie dies dann angezogen oder noch provisorisch? Ich kenne Leute, die putzen sich die Zähne in der Dusche, unter laufendem Wasser. Manche gurgeln ausgiebig. Wie sieht es mit der Temperatur des Wassers aus? Ja, und vor allem: Welche Zahnpasta benutzen Sie? Kommt da noch ein Mundwasser dazu? Und so ließen sich viele Fragen stellen. Schrubben Sie wie wild und rütteln Sie damit ihren ganzen Kopf, benutzen Sie eine elektrische Zahnbürste und lassen es sanft angehen? Ist die Zahnbürste hart oder weich? Und dann noch Zahnseide dazu?
Wie irritiert, wie gestört, wie verärgert sind Sie, wenn es einmal anders läuft als seinen ganz gewohnten, festgelegten Gang, den Sie ja – fast noch vom Schlaf besinnungslos – ablaufen lassen können?
Und nun macht Irgendjemand, vielleicht eine Aushilfe, die Sie und Ihre Gewohnheiten nicht kennt, in ihrem Mund herum, kennt nicht ihren Rhythmus, kennt nicht ihr Tempo, kennt nicht ihre Intensität und all das andere auch nicht.
Sie haben Anteil an einem Reinigungsprozess. Aber in Wirklichkeit sind Sie Objekt dieses Reinigungsprozesses. Sie haben beim Zähne putzen Ihren Teil nicht dazu geben können.
Wir Professionellen müssten also inne halten, genau hinschauen (und dann auch dokumentieren), bei welchem Rhythmus, bei welcher Form der Bewegung das Kind (oder der junge Mann oder auch die alte Dame), sich einigermaßen entspannen kann. Wie lange es dauern muss und wie lange es dauern darf, dass diese Bewegung, dass diese Anregung im Mund auch wirklich gespürt und geschätzt wird. Wie kann man „gemeinsam den Mund ausspülen“ gestalten? So dass es nicht zum Verschlucken, nicht zur Aspiration kommt, aber dass auch tatsächlich ausgespült wird und nicht der halbe Vormittag mit Zahnpasta im Mund verbracht wird?
Das ist nicht einfach nur eine Frage fachkompetenter Pflege im technischen Sinne, sondern hier kommt es darauf an, einem sehr schwer behinderten Menschen die Möglichkeit zu geben, seine Wünsche, seine Bedürfnisse, seine Befindlichkeiten in die Planung einer gemeinsamen Aktivität mit einzubringen.
Und darüber zu entscheiden, in welcher Form diese Aktivität durchgeführt wird.

Teilhabe an der Alltagsgestaltung
„Das Leben ist kein Ponyhof“, lese ich in letzter Zeit häufiger auf T-Shirts. Ich verstehe diesen Satz zwar nicht ganz, reime mir aber zusammen, er will mir mitteilen, dass das Leben nicht immer ganz so ist, wie man es sich wünscht. Der graue Alltag hat seine eigenen Gesetze, soll mir wohl mitgeteilt werden, „alle Tage ist kein Sonntag“, so hiess es schon früher. Nichts Neues also. Pädagogen und ähnliche Berufsgruppen lieben den Alltag aber gar nicht, will mir scheinen. Sie planen das Exemplarische, das besondere Ereignis, den didaktischen Höhepunkt, das intensive Erlebnis, den Event. In der Schule sind es die Einführungsstunden und nicht die Übungsstunden, sozialpädagogisch ist es der Ausflug und nicht der Hausflur. Aber eigentlich ist es doch der Alltag, der unser Leben bestimmt.
Alltage sehen bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich aus. Natürlich sind auch nicht alle Tage gleich, manche sind grau, andere blau oder rosa…
In Wien gibt es eine Organisation „Habit“, die sich um Wohnen und Arbeiten sehr schwer mehrfach behinderter Menschen Gedanken macht und einiges davon bereits in die Tat umgesetzt hat. Hervorgegangen ist diese Gruppe aus den „Wiener Basalen Klassen“, einem Kooperationsprojekt des Stadtschulrates Wien und der Sozialdienste Wien. Sie machen sich intensiv Gedanken um den Alltag:
Alltag hat etwas Routinemäßiges, etwas Gleichmäßiges eben etwas, das jeden Tag passiert und damit auch vorhersehbar und verlässlich ist. Dies gibt Sicherheit und Orientierung. Man hat im Lauf der Zeit die Möglichkeit, seinen Platz zu finden und wiederzuerkennen. Sehr schwer behinderte Menschen benötigen oft viel Zeit, viele wiederkehrende Wiederholungen, bis sie die
Sicherheit des Wiedererkennens gewinnen. Allzu oft sind sie in die Planungen des Alltags, in die Vorhaben, in die Möglichkeiten eines jeden einzelnen Tages überhaupt nicht einbezogen. Sie werden mitgenommen, überrascht, platziert, hingestellt, sie bekommen Therapie, werden aktiviert und schlimmstenfalls auch „bespaßt“. Wir wissen es selbst, die einen sind aktiv und die anderen sind die Objekte dieser Aktivitäten. Teilhabe oder gar Partizipation im geschriebenen Sinne ist dies alles bestimmt nicht.
Was hat Habit nun getan? Es geht dort um den nachvollziehbaren Alltag. Der Alltag vom Aufstehen bis zur abendlichen Ruhe soll etwas werden, was wiedererkennbar, durchschaubar, abschätzbar, und damit Normal-Alltag wird:
Es soll nicht etwas mit mir passieren, sondern ich möchte gestaltend in diesem Alltag aktiv sein können. Teil haben, Teil sein, meinen Teil dazu geben!
An dieser Stelle ein Video: Eine junge Frau, die ihre Arbeit selbst bei einer großen internationalen Tagung vorgestellt hat. Ihre Arbeit besteht darin, zusammen mit einer anderen jungen Frau, die ihre „Betreuerin“ ist, auf den nahe gelegenen Markt zu gehen und dort einzukaufen, damit innerhalb der Gruppe etwas zum Mittagessen bereitet werden kann. Die beiden gehen/fahren zum Markt und schauen sich um, bleiben an einzelnen Ständen stehen und tun das, was andere Marktbesucher auch machen: Sie schauen fragend zum Standbetreiber, dürfen sich dann eine Frucht nehmen, sie befühlen, beklopfen, sie riechen und auch hineinbeißen. Menschen mit einer Wahrnehmungseinschränkung, mit kognitiven Einschränkungen brauchen ein bisschen mehr davon; sie müssen länger fühlen, sie müssen intensiver riechen, sie müssen das Gemüse oder Obst ein wenig länger in den Händen halten, vielleicht müssen sie auch bei diesen Aktivitäten noch weiter unterstützt werden. Aber sie tun das, wie andere auch und vor allem können sie signalisieren, ob ihnen dies schmeckt, interessant vorkommt oder nicht. Die Beiden ziehen weiter, bleiben woanders stehen. An einem Stand, wo man sie schon kennt, wird ein bisschen erzählt, man lacht, nimmt noch etwas mit, was man vielleicht so gar nicht wirklich braucht. So werden die zwei Frauen Teil des Marktes. Teil derer, die an diesem Morgen auf den Markt gehen. Die junge Frau im Rollstuhl hat ihre Identität, sie wird wiedererkannt, man weiß, wie sie sich verhält und was sie mag, man erkennt die Beiden als lustige junge Frauen, mit denen man gerne in Kontakt kommt. Und zuhause angekommen gibt sie ihren Teil zum Alltag dazu. Nämlich das, was sie eingekauft hat, was sie ausgewählt hat und vielleicht auch etwas von der strahlenden Frische, die sie vom Markt ganz persönlich mitbringt.
„Schaut mal, was ich Euch mitgebracht habe…“

Teilhabe am kulturellen Erbe
Zwei meiner ehemaligen, meiner fast allerersten Schüler machen Musik. Thomas und Oliver waren kleine Jungs, die damals als sehr schwer körperbehinderte, nicht sprechende Kinder, auch für geistig behindert gehalten wurden. Die unterstützte Kommunikation war noch in allerersten Anfängen (Fröhlich, 1979) und digitale Möglichkeiten zur Kommunkationsunterstützung gab es nicht. Die Beiden waren vielleicht auch keine heimlichen Genies sondern ganz normale Jungs mit einem schweren Handicap. Dass sie damals die Schule überhaupt besuchen konnten, war schon etwas Besonderes. An anderer Stelle wären sie wahrscheinlich als Dauerpflegefall im Bett liegen geblieben…
Jetzt sind sie über vierzig und spielen in einer Band. Nein, es sind keine Wunder geschehen, da spielt nicht der Eine virtuos Keyboard und der Andere Schlagzeug. Sie sind immer noch sehr schwer und komplex beeinträchtigt sie brauchen ganz viel Hilfe, so können zum Beispiel nicht alleine essen und die Sache mit der digitalen Kommunikation, also den Computern haben sie auch nicht wirklich erfasst. Aber sie tragen etwas zur Kultur der Region bei. Diese Band macht eine ziemlich weiche, einschmeichelnde, ja eigentlich einfache Musik. Aber viele Menschen mögen das, kommen zu den Konzerten und erfreuen sich auch wirklich daran, dass da Menschen mitspielen, die man sonst in einer Musikgruppe nicht vermuten würde. Ihre Anwesenheit hat auch die Texte geprägt. Da wird auch über Zerbrechliches und Unvollkommenes gesungen. Die Beiden nutzen ihre sehr eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, um Klänge zu erzeugen, die sich in den Gesamtsound einfügen. Sie üben mit, sie bereiten vor, sie sind dabei, sie gestalten mit.
Partizipation am kulturellen Erbe mag ein wenig vollmundig klingen – in diesem Zusammenhang. Aber in unserer Gegend wird sehr viel Musik gemacht. Es gibt eine lange Tradition der Wandermusikanten und Musik wird sehr geschätzt, es muss nicht die der ganz großen Konzertsäle sein. Insofern sind die Beiden eingereiht in eine lange Tradition der Region, sie machen mit in kulturellen Projekten und sie geben ihren Teil.
Und der kann fraglos und ohne jede Peinlichkeit angenommen werden.
Seinen Teil dazu geben dürfen, scheint mir ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Teil-Aspekt der Frage Teilhabe zu sein.

UN-Konvention Artikel 3
Wichtiger als der in Deutschland vorrangig thematisierte § 24 scheint mir Artikel 3:
„… Die Achtung …. seiner (des Menschen mit Behinderung )individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seine Unabhängigkeit.“
„Die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit.“
Die Achtung bedeutet Respekt vor der Einmaligkeit eines Menschen, diese Achtung bedeutet auch eine Warnung vor therapeutischen, erzieherischen, medikamentösen Eingriffen in die Persönlichkeit dieses Menschen.
Das scheint mir wesentlich mehr als Teilhabe im engen deutschen Sinne zu sein.
Die im zweiten Absatz formulierte Akzeptanz der menschlichen Vielfalt stößt bekanntlich sehr schnell an historische, psychologische und gesellschaftliche Grenzen.
Wir sollten für einen kurzen Moment den Blick heben und uns gewissermaßen umschauen, über unser eigenes Berufsfeld hinaus und wir werden sehr schnell erkennen, wie eng die Grenzen unserer eigenen Akzeptanz gegenüber menschlicher Vielfalt tatsächlich sind: Gegenüber streng religiösen Menschen, gegenüber Menschen mit anderen Essgewohnheiten, gegenüber Menschen anderer Kulturtraditionen, gegenüber Menschen, die andere Bücher lesen oder gar keine, gegenüber Menschen, die die falschen Kleider tragen oder seltsame Musik hören. Kurzum, immer gegenüber Menschen, die einfach nicht so sind wie wir…..
Gegen die Monotonie des sozialpädagogischen Weltbildes
Am Ende dieser Überlegung möchte ich noch einmal mit Leidenschaft dafür hinweisen, die eigene Welt nicht für „die Welt“ zu halten. In unserem heilpädagogisch sozialen Berufsfeld dominieren bestimmte Wertvorstellungen, bestimmte Lebensentwürfe und symmetrisch dazu bestimmte Ablehnungen. Den meisten ist dies nur gelegentlich bewusst, manchen nie.
Unsere Tagesabläufe sind in ähnlicher Weise organisiert. Was eine wertvolle Beschäftigung ist, darüber besteht im Großen und Ganzen Konsens. Selbst die Art der Kleidung hat eine gewisse Uniformität und die Ernährungsüberzeugungen ähneln sich. Arbeit hat unhinterfragt einen außerordentlich großen Stellenwert, der Mensch findet seinen Sinn in Arbeit und dies soll auch, so unsere pädagogischen Überzeugung, für Menschen mit sehr schwerer Behinderung gelten. Meist herrscht ganz selbstverständlich ein „Diktat der Gruppe“. Möglichst alles soll gemeinsam getan und erlebt werden und das soll dann auch noch erfreulich sein. Einzelgängertum, Zurückgezogenheit, individuelle Sichtweisen gelten als wenig erwünscht.
Mir scheint, der heilpädagogische Durchschnitt droht ständig; ein Durchschnitt, der die Extreme kappt; alle Menschen auf Ihr Mittelmaß zurückführt; sie dadurch immer verwechselbarer und austauschbarer macht. Im neuen Fachjargon heißt dies nun „Mainstreaming“ – Besser wird es dadurch nicht.
Privacy, das Recht in Ruhe gelassen zu werden, dieses Recht möchten Pädagogen in der Regel nicht allzu sehr berücksichtigen.
Pädagogik will ja nicht in Ruhe lassen, sondern anregen, begleiten, führen, stimulieren, beraten, lehren, anleiten, zurückhalten, korrigieren – kurzum etwas mit den Menschen machen, etwas aus den Menschen machen – als wäre sie ohne uns nicht schon Menschen.
Angesichts der Frage um die Teilhabe möchte ich gerne in Erinnerung rufen: Alle Menschen sind nicht gleich, überhaupt keine Menschen sind gleich. Sie brauchen nicht das Gleiche, sie wollen nicht das Gleiche und sie können nicht das Gleiche.
Bedürfnisse, Wünsche, Fähigkeiten von Menschen sind unterschiedlich, das heisst, jeder mensch hat andere Wünsche Dem widerspricht nicht, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber dieses „gleich“ ist ein anderes „gleich“.
Wenn also die Menschen nicht gleich sind, sondern verschieden, dann sollten wir in unseren Berufen auch nicht nach Einheitslösungen suchen, nach Einrichtungen, nach Unterrichtsformen, nach Therapien und Interventionen, die man in gleicher Weise für alle einsetzen und anwenden könnte. Denken Sie an die Gefahren des pädagogischen Traums :“alle alles“. Diese Träume haben die Tendenz totalitär zu werden, d.h. total, ganz umfassend für jeden Bereich gültig sein zu wollen.
So können schöne Träume zu Albträumen werden.

Andreas Fröhlich

(Sonja Abend danke ich für die kollegialen Hinweise zur „leichten Sprache)

noch nicht zum alten Eisen

Woran ich arbeite…

noch nicht zum alten Eisen

immer wieder finde ich Stücke alten, meist rostigen Eisens, oft schon zerfressen, manches abgebrochen, krumm verbogen.
Für mich haben diese Stücke einen großen Reiz. Sie müssen gesäubert werden, meist wirklich „entkrustet“, dann wird das Eisen wieder sichtbar mit seinem schwärzlichen Glanz. Eisen ist für mich ein „natürliches“ Material, sicher nicht ohne menschlich-technisches Zutun, aber doch eben ausschließlich aus Stoffen, die die Natur uns zur Verfügung stellt.
Das drückt sich für mich haptisch aus, die Berührungsqualität von Eisen ist etwas Besonderes.
Voller Bewunderung stehe ich vor den Grossplastiken von Chillida, dem baskischen Meister der ganz grossen eisernen Skulpturen.
Meine sind ganz klein, echte Kleinplastiken, und ich habe gar nicht viel getan, um das „alte Eisen“ das zum Schrott gehört, zu retten und ihm eine besondere Bedeutung zu geben:
reinigen, da und dort polieren und bei vielen Stücken, ein wenig Blattgold aufzubringen.
Für mich wird dann das Alt-Geworden-sein dieses Stückes gewürdigt, der Hauch von Gold weisst auf den Wert hin, der nicht im Gold besteht sondern in der (unbekannten) Geschichte dieses Stückes.
Analogien sind immer erlaubt, ja, erwünscht.

Entwicklung und Förderung Körperbehinderter

Entwicklung und Förderung Körperbehinderter
Wissenschaftliche Forschung und pädagogische Praxis
Herausgegeben von Forschungsgemeinschaft „Das körperbehinderte Kind“ e. V. Bearbeitet von
Christoph Leyendecker und Annemarie Fritz
Verlag Edition Schindele . Heidelberg, 1986
6. Schwerstbehinderte
Vitale seelische Probleme schwerstbehinderter Kinder und Jugendlicher
Andreas Fröhlich
Vorbemerkung
Die hier ausgeführten Gedanken sind in der engen, langjährigen Zusammenarbeit mit Ursula Haupt entstanden. Es ist dem Verfasser jedoch nicht möglich, diese Anteile, z. B. in Form von Zitaten, zu kennzeichnen. So sind die folgenden Seiten als Darstellung gemeinsamer Überlegungen zu verstehen, nicht als Arbeit eines einzelnen.
Zum Personenkreis
Auf eine einengende Diskussion und Definition des von uns gemeinten Personenkreises soll hier verzichtet werden. Doch muß deutlich gemacht werden, daß der Kreis enger gezogen wird, als in den Beiträgen von KUNERT und OSKAMP in diesem Band.
Wir sprechen von mehrfach schwerstbehinderten Kindern, deren Gesamtentwicklung nur in eine vorsichtige Beziehung zu Phasen des ersten Lebensjahres beim gesunden Kind gebracht werden kann (vergl. Haupt und Fröhlich, 1982, S.20 ff.).
Allerdings beschreibt Mall (in Vorb.) neuerdings ganz ähnliche Phänomene auch bei schwer Geistigbehinderten, so daß sicherlich die Personengruppe unter dem Aspekt der vitalen Depression auch anders beschrieben werden könnte.
Ganzheitliche Entwicklung
Ohne auf die wissenschaftstheoretischen Probleme der Beschreibung von Ganzheiten einzugehen, sei hier an den Anfang ein Modell gestellt, das uns eine Vorstellung von den Wechselwirkungen innerhalb der Entwicklung eines Menschen geben kann.
Haupt hat diese sieben Bereiche als besonders wichtig und charakteristisch für die menschliche Entwicklung erkannt und zusammengestellt.
Man muß sich vor Augen halten, daß die jeweils genannten Bereiche zu jedem anderen in der Beziehung eines andauernden Austausches stehen. Kein Bereich kann aktiviert werden, ohne die anderen spezifisch mit anzuregen und zu beeinflussen. Zwar können Erwachsene sich willkürlich auf einen Aspekt konzentrieren – so der Leser auf seine Kognition – doch sind alle anderen in jeder Lebenssituation mitbeteiligt, wenn auch nicht immer bewußt.
* Ich danke besonders Dr. H. Frank, dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Karlsruhe für seine fachlichen Hilfen und Anregungen.

Beim Kind auf frühen Entwicklungsstufen können wir von einer Gleichwirklichkeit und Gleichbedeutsamkeit der Entwicklungsbereiche ausgehen.
Für unser Thema ist der Aspekt der Körpererfahrung, der Emotion und der Sozialerfahrung besonders wichtig; daher sind sie in der graphischen Darstellung auch auf eine Ebene gelegt.
Seelische Probleme
Hinter dieser sehr allgemein gehaltenen Formulierung verbergen sich – dies wissen wir alle aus persönlichem Erleben – die dramatischsten und bedrückendsten Erlebnisse, die uns möglich sind. Wir machen Erfahrungen mit Umwelt und Menschen, ebenso mit uns selbst, die gefühlsmäßig eingefärbt sind, die auch emotional nachklingen und immer wieder erinnerbar sind, die wiedererlebt werden können und lange nichts an Aktualität verlieren.
Beobachtet man längere Zeit schwerstbehinderte Kinder, so ist festzustellen, daß bestimmte Verhaltensweisen immer wieder auftauchen, die sich zunächst einer unmittelbaren Interpretation entziehen:
• Rückzug auf die unmittelbare Körpersphäre
Viele Kinder scheinen nur Interesse am eigenen Körper und dessen unmittelbarer Umgebung zu haben, obwohl ihre Sinne ihnen einen weiteren Horizont eröffnen könnten.
• Wiederholung sicherheitsspendender Verhaltensweisen
Fast alle Kinder bevorzugen bestimmte, wiederkehrende Aktionsmuster (Stereotypien), die sie kaum variieren. Wir interpretieren dies lange als Autostimulation, da das Kind sich so wenigstens einige Anregung selbst vermitteln kann. Man sollte jedoch auch überlegen, ob diese Aktionen nicht andere Eindrücke und Anregungen fernhalten; fremde, beängstigende, Unsicherheit erzeugende Erlebnisse vor allem.
• Verweigerung lebenserhaltender und lebenserleichternder Verhaltensweisen Nahrungsverweigerung, Ablehnen von Getränken auch bei akuter Austrocknungsgefahr, Fehlen eines Hustenreflexes (ohne neurologische Grundlage) kommen immer wieder bei schwerstbehinderten Kindern vor. Sie leben eigentlich anti-vital, sie scheinen am Leben nicht interessiert.
• Reduzierung kommunikativer Verhaltensweisen
Kinder nutzen die objektiven Sinnes- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, die ihnen geblieben sind, nicht. Sie reduzieren ihre Austauschprozesse mit der Umwelt auf ein Minimum. Wir sprechen von autistischen Verhaltensweisen.
• Somatisierungen
Neben der eigentlichen Behinderung sind immer wieder körperliche Veränderungen zu beobachten, wie man sie aus der psychosomatischen Medizin her kennt:
o Muskeltonus-Veränderung, meist als erhöhte Spannung, die nicht zwingend mit einer eigentlichen Spastik erklärt werden kann (Angst und Muskelspannung gehören sehr eng zusammen).
o Atemfrequenz und –rhythmus variieren intraindividuell erheblich, viele Kinder scheinen keinen persönlichen Rhythmus zu finden. Lange Atemstillstände, Hyerventilationen und ach Schnappatmung kommen häufig vor.
o Erbrechen als vitale Ablehnungs- und Protestform ist vielen bekannt, auch das tage- bis wochenlange Stuhlverhalten muß nicht nur nahrungsbedingt sein.
o Magenbeschwerden bis hin zu Blutungen tauchen auf, die psychosomatische Genese ist bekannt.
o Kreislaufstörungen könnten ebenfalls unter diesem Aspekt betrachtet werden, sie kommen häufig vor.
Fassen wir diese Auffälligkeiten zusammen, so ergibt sich ein deutliches Bild depressiver Symptomatik. Dies alles ist noch keineswegs zwingend, aber immerhin doch so eindrucksvoll, daß sich meiner Überzeugung nach hier einige Gedanken lohnen, ob wir hier zusätzlich zu dem, was wir an somatischer, neurophysiologischer Behinderung sehen, was wir an geistigem Entwicklungsrückstand feststellen können, nicht auch noch konstatieren müssen, daß es sich um kinderpsychiatrische Phänomene handelt.
Analyse der Lebensgeschichte schwerstbehinderter Kinder
Wir haben einen Konzentrationspunkt, von dem wir sagen, hier hat die primäre Schädigung stattgefunden, wobei wir allerdings zunehmend wissen, daß gerade bei diesen ganz schwerbehinderten Kindern in der Regel schon eine komplexe pränatale Vorgeschichte des Ereignis ist, sondern eine Summation von Ereignissen in Wechselwirkung. Daraus resultiert eine – bei diesen schwerstbehinderten Kindern – in der Regel extreme Bewegungsarmut, besser ein Fehlen spontaner Aktivität.
Für das Neugeborene und den Säugling heißt dies unter dem Bewegungsaspekt der frühen Zeit, daß die Kinder entweder apathisch oder rigide, sogenannte Floppy-Babys sind. Daraus resultiert, daß diese Kinder sich selbst nicht ein ausreichendes Maß von sensorischer Anregung verschaffen können. Sie können nicht den Kopf heben, sie können den Kopf nicht drehen, sie können nicht strampeln, sie können die Händchen nicht einsetzen. Dies alles könnten wir hier als primären Erfahrungsmangel kennzeichnen. Umwelt erschließt sich für diese Kinder nicht, sie bleiben bereits in dieser frühen Phase auf einen ganz engen Erlebnishorizont angewiesen.
Hinzu kommt, daß die vitale Situation der Kinder in hohem Maß bedroht ist, d.h. medizinische Intensivmaßnahmen sind in der Regel angezeigt. Der heutige Stand der Medizintechnik erlaubt es noch nicht, die Kinder am Leben zu erhalten, ohne ihnen das, was hier eine sekundäre Deprivation genannt wird, eben doch zuzufügen.
Das bedeutet, die Reste der Aktivitäten müssen auch noch inhibiert werden, das Kind muß an Sonden gelegt werden, das Kind muß in den Inkubator, und man muß Wert darauf legen, daß es die Reste von Bewegungsfähigkeit nicht nutzt, um sich die Sonde herauszureißen und desgleichen. Das Kind wird noch einmal isoliert.
Das ist kein Vorwurf gegen Neonatal-Medizin; wir sehen im Moment einfach keine andere Möglichkeit, das Kind am Leben zu erhalten, aber das hat Folgen. Wenn wir den Kreis weiterfassen, dann haben wir das, was wir einen sozial-emotionalen Hospitalismus nennen, in klassischer Anlehnung an Renè SPITZ. Das Kind hat keine Möglichkeit, sich in dieser frühen Phase an eine Bezugsperson zu gewöhnen; es herrscht Schichtdienst, es herrscht zwangsläufig Routine. Es ist immer noch ein großes Ereignis, wenn die Mutter mit sterilem Handschuh in den Inkubator hineinlagen kann. So macht das Kind die Erfahrung, daß Beziehungen beliebig sind und jederzeit austauschbar. Bindung erfährt es nicht und all das, was an körperlicher Erfahrung – knuddeln, schmusen usw. – damit verbunden ist. Wir haben als vorläufig letzten Ring das, was ich Beziehungsstörung nennen möchte, jetzt speziell auf die Mutter hin bezogen. Wir konnten das in einer langen Reihe von Befragungen recht gut herausarbeiten (FRÖHLICH, in Vorb.). Wenn das Kind nach langem Krankenhausaufenthalt, zu einem unbiologischen Zeitpunkt, der Mutter wieder in die Arme gelegt wird, die ohne Kind von der Entbindungsklinik nach Hause gegangen ist, dann sind die Beiden sich sehr fremd geworden, es ist ein „neues“ Kind, und die Mutter hatte nie die Chance, den Übergang vom „Kind in ihr“ zum „Kind bei ihr“ zu realisieren. Dazu kommt, was diese Beziehungsstörung vertieft, daß das schwerstbehinderte Kind in der Regel über all die wichtigen kommunikationsstiftenden Verhaltensweisen, die das gesunde Baby hat – ich verweise auf die Untersuchungen von PAPOUSED (1984) – nicht verfügt. Und wir als Erwachsene sind offensichtlich, interkulturell übereinstimmend, auf solche Signale des Kindes angewiesen, um mütterlich, väterlich, onkelhaft oder sonstwie zugewandt zum Kind sein zu können. So kommt es also zu einer doppelten Irritation, die sich lange hinzieht, und von der man den Eindruck haben kann, daß sich eigentlich nie wieder reguliert.

Hält man sich diese biographischen Stationen vor Augen, so wird unmittelbar deutlich, daß sie ausreichend wären – ohne das Vorliegen einer schweren Behinderung -, um erhebliche kinderpsychiatrische Symptome hinreichend zu erklären.
Allerdings wäre es unbedingt notwendig, mehr und Genaueres über die möglichen Zusammenhänge herauszuarbeiten – Forschungsaufgaben tun sich fordernd auf!
Spezielle Fragen der Mutter-Kind-Interaktion
Modellartig lassen sich Kreisprozesse darstellen, die helfen können, die sich wechselseitig negativ beeinflussenden Größen zu erkennen. Dabei ist es wichtig, sich klar vor Augen zu halten, daß es in biologischen Systemen – wie eben am Prinzip der Ganzheit zu Anfang dargelegt – keine einfachen, sogenannten linearen Abhängigkeiten geben kann (vgl. BRONFENBRENNER, 1981).
Kindliche Verhaltensvarianten Irritierte Aufnahme durch die Mutter Verstehensprobleme
Unsicheres Mutterverhalten Irritation des Kindes Verstehensprobleme
Krankheit
Schmerz
Abhängigkeit
Fremdbestimmung
Reduziertes Selbstwertgefühl Inaktivität
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Phänomene zu erklären, was darauf hinweist, daß hier allerhand Forschung notwendig ist, um mehr Klarheit zu erhalten.
Wir haben eine spezielle kindliche Verhaltensvariante: Das schwerstbehinderte Baby ist anders als das gesunde Baby, wenn sie es ansieht, wenn sie die Stimme hört, die vielleicht nicht so stillen oder füttern läßt, wie man das normalerweise von einem Baby erwartet. Sie hat dadurch Probleme, ihr Kind zu verstehen, weil dies einfach nicht mehr abgesichert ist durch ein – vorsichtig formuliert – biologisches Grundwissen. Mütterliches Normalverhalten und das besondere Verhalten des Kindes passen nicht mehr zueinander. Dadurch wird die Mutter natürlich unsicher, und diese Unsicherheit führt wiederum zu einer Irritation des Kindes, das Kind hat auf seinem ganz frühen Entwicklungsniveau erhebliche Verstehensprobleme mit seiner Mutter. Hier wäre ganz stark auf die Untersuchung von SCHLACK (1984) zur Interaktion zwischen Mutter und Risikokind und Mutter und behindertem Kind hinzuweisen. So haben wir also einen Kreis, der sich vermutlich in immer schnellerer Geschwindigkeit dreht, denn es geht ja nun weiter, so daß die Beiden miteinander permanenten Mißverständnissen ausgeliefert sind. Dies gilt auch in der allgemeinen Kinderpsychologie und –psychiatrie als eine Erklärungsmöglichkeit für psychisch abweichendes Verhalten im Kindesalter.
Oder wir nehmen einen anderen Kreis: Wir haben ein Kind, das ist krank. Am Anfang seines Lebens ist ein schwerstbehindertes Kind krank dies ist mit Schmerzen
verbunden, welcher art wissen wir nicht genau. Wir haben abhängigkeit, es ist hilfsbedürftig, wir haben dadurch eine ganz starke Fremdbestimmung (vgl. HAHN, 1984), was auch schon beim Baby relevant wird. Ein gesundes Kind darf in einem bestimmten Maß z.B. Spinat ausspucken und signalisiert damit Eigenbestimmung. Das behinderte Kind, das permanent in der Nähe des Verhungerns ist, kann sich dieses nicht „leisten“, diese selbstbestimmte Aktion. Entweder muß es dann sehr intensiv gefüttert werden, oder es wird sondiert. D.h. auch diese ganz frühen, ganz elementaren Akte von Selbstbestimmung finden für diese Kinder kaum statt oder werden nicht als solche erkannt. Wir haben es ganz sicherlich mit einem reduzierten Selbstwertgefühl auf einem ganz elementaren, frühen Niveau zu tun. Daraus resultiert, wie wir wissen, Inaktivität, Passivität, Nichtstun, und dies wird wieder sehr leicht als Krankheit interpretiert. Auch hier wieder ein Kreis, der dahin führt, daß wir Kinder möglicherweise in eine solche depressive Grundstimmung hineinbringen.
Ausblick
Dies sind lediglich einige Anregungen, die zeigen, daß es möglich ist, manche von der Neurophysiologie und von der Entwicklungspsychologie her nicht erklärbaren Zustände bei schwerstbehinderten Kindern – in Klammern sage ich auch einmal Therapieresistenz – vielleicht auch als etwas zu erklären, was im weiteren Sinn einer depressiven Symptomatik zugeordnet werden könnte. Und daraus würde folgen, konjunktivisch verbunden, da wir möglicherweise unser Angebot variieren müßten, daß also Förderung im Sinn von Training zunächst einmal weniger gefragt ist, sondern vielmehr dinge erforderlich sind, die das Kind aus diesen Zirkeln herausbringen können – ich denke z.B. an die gestalttherapeutische Arbeit, die KLOSTERMANN (o.J.) mit blinden, mehrfachbehinderten Kindern durchführt; ich denke auch an – ich bitte um Vorsicht dabei – gewisse Aspekte der Festhaltetherapie von PREKOP (1984). Und wenn man sich umschaut, findet man noch eine ganz Menge mehr: die basale Kommunikation, wie MALL (1984) sie vorstellt, die Gedanken zum Somatischen Dialog (FRÖHLICH, 1982) und sicherlich viele individuelle Varianten des sensiblen Eingehens auf die Probleme schwerstbehinderter Kinder.
Ich glaube auch, daß z.B. gute Physiotherapeuten dies häufig in ihrer Arbeit mit einbeziehen können, daß sie dem Kind elementare Erfahrungen des Könnens, des Akzeptiertwerdens und auch der Selbstbestimmung vermitteln können, und so eine gewisse Öffnung dieser Zirkel möglich machen.
Literatur
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