Mantua im Schnee

Die Assoziazione Casa del Sole in Mantua (www.casadelsole.org) hatte mich zu einem Fortbildungstag eingeladen. Das Thema wurde in vielen Mails vorab gemeinsam entwickelt:
„Le basi della sviluppo umano“ – aspetti della Stimolazione Basale
(Die Grundlagen der menschlichen Entwicklung – Aspekte der Basalen Stimulation“ Luca Scarpari, einer der italienischen Multiplikatoren unseres Konzeptes, hatte die Vorarbeit und Organisation geleistet.)
Die Casa del Sole ist eine große Organisation auf der Basis einer Stiftung, die sich der Förderung behinderten Menschen in verschiedenen Lebensphasen widmet. Von der Arbeit mit Kindern bis weit in das Erwachsenenalter reicht das Angebot. Die Arbeit für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen steht im Zentrum der Bemühungen. Die Casa del Sole steht auch schon seit vielen Jahren in Verbindung mit dem Oberschwabenzentrum in Weingarten(www.kbzo.de), einer bekannten und immer wieder innovativen Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderungen in der Nähe des Bodensees.
Einen jungen Mann aus Oberschwaben lernte ich kennen. Er macht gerade ein Praktikum in Mantua im Rahmen seiner Ausbildung als Europaerzieher – eine zukunftsweisende Idee. ( www.ifsb.rv.schule-bw.de)
In der Casa del sole kamen aus ganz Oberitalien ErzieherInnen, Therapeuten, Ärzte und auch Verwaltungspersonal von Einrichtungen zusammen, die sich um sehr schwer beeinträchtigte Menschen sorgen.
Insgesamt waren es 180 TeilnehmerInnen an diesem 16. Februar 2013.
Ich hatte den ganzen Tag inhaltlich zu gestalten – mit ausreichend Pausen.
Wir hatten in der gemeinsamen Vorbereitung einzelne Schwerpunkte vereinbart, die für die Kolleginnen und Kollegen in Italien von besonderer Wichtigkeit waren:
– Frühes Lernen mit schwersten Einschränkungen
– Kommunikation und Interaktion vor der Sprache
– Mehrfachbehinderte Erwachsene und ihr besonderes Verhalten – Autismusspektrumsstörungen und Basale Stimulation dazwischen gab es immer wieder Diskussions- und Fragerunden.
Der pensionierte Deutschlehrer eines Gymnasiums in Mantua, Guiliano Germiniasi, stellte sich als sehr engagierter Übersetzer zur Verfügung. Es war sehr angenehm, mit ihm zu arbeiten, wir konnten immer wieder einmal gemeinsam nach einer treffenden Übertragung in die jeweils andere Sprache suchen. Das bringt mir selbst immer sehr viel Einsichten, denn mit der eigenen Sprache geht man allzu oft eher unreflektiert um. Im Spiegel der fremden Sprache erschließt sich dann manches wieder neu.
Es fiel mir in den Gesprächen auf, dass ich keinerlei „Klagelaute“ hörte, wie sie mir in Deutschland ständig begegnen: keine Zeit, Überlastung, kein Verständnis der Vorgesetzten, unwillige Kollegen…. Nein, Interesse, Ideen, Austausch, ernste Fragen. Und das in einem Land, in dem es schwierig ist derzeit.
Italien, 16. Feb. 2013
Ich fühlte mich herzlich willkommen geheissen, spürte sehr viel offenes Interesse an unserem Konzept und den Möglichkeiten, insbesondere das Verständnis für Menschen mit schweren Behinderungen zu verbessern. Immer wieder ging es um Kommunikation und Beziehung, um Interaktion und emotionale Balance.
Die sehr kleine italienische Arbeitsgruppe umfasst vier Pädagogen und Pflegende – und sie haben schon eine unglaubliche Informations- und Überzeugungsarbeit geleistet. Meine Hochachtung und Dankeschön für diese Einladung!
Andreas Fröhlich

Somatischer Dialog

Ergänzende Gedanken zum „Somatischen Dialog“ Andreas Fröhlich 2012
Der Somatische Dialog wurde von mir 1982 erstmals beschrieben. Es sind also jetzt dreißig Jahre, dass dieser wichtige Bestandteil des Konzeptes Basale Stimulation Wirkung entfalten konnte. Er hat aber nicht nur das Konzept mit geprägt, sondern hat in die allgemeine Kommunikationsförderung (UK) schwer beeinträchtigter Menschen Eingang gefunden.
Die Kommunikation über den Körper, von Körper zu Körper, war in den 1980er Jahren sowohl in der Pädagogik, als auch in den verwandten therapeutischen Bereichen ungewöhnlich, nahezu skandalös. Körperferne galt als wichtiges Merkmal pädagogischer und therapeutischer Arbeit.
Die Hilflosigkeit der etablierten Fachkollegen angesichts sehr schwer mehrfach behinderter Menschen führte zu einer gewissen „Großzügigkeit“, in diesen speziellen Fällen tolerierte man das Abweichen von den klassischen Vorgehensweisen.
Der Somatische Dialog ist nicht ohne die Arbeit von Ursula Haupt zu denken. Sie hat mit ihrer psychotherapeutisch orientierten Pädagogik die Landstuhler Arbeit sehr beeinflusst. Fragen der Depressivität von schwer behinderten Kindern, Rückzug als psychogene Reaktion, andere als die damals üblichen Interpretationen selbstverletzenden Verhaltens, der Respekt vor dem „ Nicht-mehr-Leben-wollen“ dieser Kinder kennzeichnen ihren Einfluss.
Der Somatische Dialog verstand sich in erster Linie als ein Ansatz, diese Kinder zu verstehen, ihnen die eigenen Gefühle (Wut, Angst, Schmerz, aber auch Freude und Bedürfnis nach Nähe) zu spiegeln, sie erlebbar zu machen, ihnen – auch ohne Worte – einen Namen zu geben. Dieser Dialog war therapeutisch gedacht. Er entstand zu allererst aus therapeutisch gemeinter Arbeit mit Silke S., die sich – für uns unerklärlich – schlug, biss, dabei heftig schrie und in hohe Erregung kam. (Ein früher S-8 Film belegt diese Arbeit.)
Nach und nach konnten wir diese Art der Kommunikation neben dem von Papousek geprägten und von uns adaptierten Baby-Talk einsetzen.
Für mich ist diese spezielle Dialogform heute ein Kernstück der basalen Arbeit mit allen nicht sprechenden Menschen, die in gewisser Hinsicht ein seelisches Thema bearbeiten müssen.
Aus diesem Grund erfordert die Arbeit im Somatischen Dialog auch therapeutische Kompetenzen und Verantwortung.
In den letzten Jahren wurden in ganz anderen Zusammenhängen von ganz anderen Forschern Erkenntnisse gewonnen, die die eigentliche Wirkungsweise des Somatischen Dialoges für mich neu beleuchten: die Spiegelneurone.
Wir glauben heute zu wissen, dass es tatsächlich ein organisches Äquivalent für mitfühlendes Verstehen, für ein Sich-hinein-Versetzen in andere Menschen gibt. Diese Gehirnaktivitäten finden in der Regel wechselseitig bei den Partnern einer dialogischen Situation statt. Die Spiegelneurone – so der derzeitige Kenntnisstand – vermitteln uns einen Eindruck von dem, was unser Gegenüber in der aktuellen gemeinsamen Situation erlebt, wie die affektive Einfärbung bei ihm sein könnte. Dadurch sind wir in der Lage, uns emotional auf ihn und sein Erleben einzustellen. Wir reden nicht aneinander vorbei – in den meisten Fällen und Situationen wenigstens.
Die entscheidende Feststellung: die höchste Übereinstimmung der wechselseitigen Mitschwingung entsteht dann, wenn die Beteiligten sich gemeinsam oder der eine den anderen imitierend b e w e g e n.
Bekannt ist: wir verstehen uns ohne Worte beim Tanzen (wenn wir die Grundmuster beherrschen), bei manchen Sportarten, oder auch bei bewegungsorientierten Arbeiten (schauen Sie einmal Dachdeckern oder Gerüstbauern zu, wenn sie sich Material zureichen oder -werfen. Das hat tänzerisch harmonische Qualitäten.)
Der Somatische Dialog mit seinen eher feinen Bewegungen ermöglicht es, sich in die aktuelle Befindlichkeit des anderen ohne Worte hinein zu begeben. Die Anspannung der Finger, die Haltung der Hände, die Atembewegung des Brustkorbes, das Pendeln des Kopfes und vieles mehr geben uns die Möglichkeit unsere Spiegelneurone einzusetzen. Wir „imitieren“ die Bewegungen – nicht um etwas zu zeigen, sondern um etwas zu spüren! – und bekommen über unsere Spiegelneurone Informationen über ein uns zunächst fremdes Befinden. Wie ist es, wie fühlt man sich (ungefähr) wenn man so lange und so fest die Finger steif und fest anspannt…
Wir nähern uns der affektiven Lage unseres Gegenüber an und können auf der Basis dieses Verstehens eher „Antworten“ finden, die zu einer aktuellen Entwicklung oder gar Lösung führen.
Im Somatischen Dialog können wir dann wieder durch Bewegung unseres eigenen Körpers, durch Berührung, durch gemeinsame Bewegung Angebote machen, die Situation ein klein wenig anders, angenehmer, entspannter, offener zu erleben.
Wiederum ohne Worte, ohne pädagogische Aufforderung, ohne Appell sondern „nur“ durch die Kraft der wechselseitigen Mitbewegung.
Es bleibt auch nach dreißig Jahren, dass der Somatische Dialog kein Mittel der Unterhaltung ist, auch keine Variante von Unterstützter Kommunikation, sondern eine sehr individuell zu gestaltende, körperbezogene Dialogform, deren vorrangiger Inhalt die Problembearbeitung eines Menschen ist.
Die Forschungen zu den Spiegelneuronen haben – wie andere Forschungen aus den Neurowissenschaften auch – weitere Belege gebracht, dass das Konzept Basale Stimulation mit den humanwissenschaftlichen Grundlagenforschungen in hoher Übereinstimmung steht.